„Die Sinne der Vögel“ von Tim Birkhead

Aus unserer heutigen Sicht fällt es schwer anzunehmen, Vögel hätten keine oder kaum ausgeprägte Sinne. Längst ist es unserer Generation in Fleisch und Blut übergegangen, dass ein Greifvogel eben über „Adleraugen“ verfügt und dass ein Geier Aas über große Distanzen riechen kann. Wir haben uns mit dem Wissen angefreundet, dass Vögel über die Wahrnehmung des Magnetfeldes und ultravioletten Lichts verfügen, selbst wenn wir keinen echten Sinn dafür haben (außer sonnenverbrannter Haut vielleicht). Und mag sich die Wissenschaft nach wie vor gegen Anthropomorphismen wehren, viele Vogelfreunde sind inzwischen auch von den emotionalen Fähigkeiten der Vögel überzeugt und lassen sich nicht mit der schnöden „Chemie im Gehirn“ abspeisen, wenn es um Treue, Trauer, Liebe und Freude geht.
Doch es gab etliche Jahrhunderte lang sehr unterschiedliche und kontroverse Vorstellungen über die Sinneswahrnehmungen von Vögeln. Der Wissenschaftshistoriker und Ornithologe Tim Birkhead nimmt den Leser in diesem Buch nicht nur mit in die Welt der Sinne von Vögeln, er umreißt auch auf umfassende und doch kurzweilige Weise die letzten dreihundert Jahre des Forschens und Experimentierens auf diesem Gebiet.
Gerade die Sinne, die uns selbst vertraut sind, haben die Wissenschaft auf Trab gehalten – und tun es noch immer. Mehr als einmal spricht Tim Birkhead den angehenden Promovierenden unserer Tage ermutigend zu, sich auf die Erforschung der Sinne von Vögeln einzulassen.

Aufbau des Buches

Tatsächlich fördert Tim Birkhead in seinem wissenschaftlich fundierten Buch Erstaunliches über das Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten von Vögeln zutage. Er strukturiert es nach den uns bekannten Sinnen, ergänzt um den Magnetsinn und die Gefühle, und stellt in einer unterhaltsamen Mischung aus Studien, geschichtlichen Entwicklungen in der Forschung, autobiografischen Erlebnissen, Erklärungen zu anatomischem Aufbau und Funktion der Sinnesorgane sowie den physikalischen, chemischen und biologischen Aspekten des Sinnes selbst den gegenwärtigen Stand der Wissenschaft dar. Dabei wird deutlich, wie viel Bewegung in die Forschung gekommen ist. Und der Leser versteht etwas, das Birkhead wie folgt umschreibt:

„Zudem hat ein weiterer Punkt unser Verständnis dafür behindert, wie es ist, ein Vogel zu sein, nämlich die Tatsache, dass wir ihre Sinne, um sie zu verstehen, zwangsläufig mit unseren eigenen vergleichen müssen. Doch gerade dies schränkt unsere Fähigkeit stark ein, andere Arten zu verstehen.“

(S.X, Vorwort)

Jahrhundertelang herrschte ein immenser Widerstand gegen die Existenz ausgeprägter aviärer Sinneswahrnehmungen – den religiös geprägten Wissenschaften galt der Mensch als das höchstentwickelte aller Geschöpfe und  einem anderen Wesen etwas „Menschliches“ zuzusprechen war undenkbar und kam einem Sakrileg nahe. Und so war es eben immer der menschliche Maßstab, an dem sich alles orientierte (und es oft heute noch tut), wodurch dann vieles über etliche Dekaden hinweg unverständlich blieb.

Interview mit Tim Birkhead zu „Bird Sense“ (Englisch)
Der Inhalt

Tim Birkheads Buch rangiert in einer Domäne jenseits populärwissenschaftlicher Literatur, wie sie uns in den letzten Jahren vermehrt erreicht hat, auch wenn das fachkundigere Leser möglicherweise anders empfinden.

Ich habe in diesem Buch versucht, die Resultate der wissenschaftlichen Artikel, die sich auf Vogelsinne beziehen, in Alltagssprache zu übersetzen. Dabei habe ich jede Fachsprache so weit möglich vermieden, doch wo sie unabdingbar ist, habe ich versucht, den Begriff kurz zu erläutern, und für diejenigen, die es gern etwas genauer wissen möchten, ein Glossar angehängt.

(S.XVII, Vorwort)

Aber das Buch verliert dadurch keineswegs an Niveau. Im Gegenteil:
Tim Birkhead erspart dem Leser zum Beispiel nicht die Beschreibungen von Experimenten am lebenden Objekt. Wissenschaftliche Forschung ist nicht unbedingt etwas für Zartbesaitete. Nach den Schilderungen des italienischen Naturkundlers Lazzaro Spallanzani, der im 18. Jahrhundert lebte und herausfand, dass Fledermäuse sich anhand ihres Gehörsinns orientierten, weil er ihnen mit einer Schere die Augäpfel entfernt hatte, legte auch ich dann eine einstweilige Lesepause ein. Es gibt einige solche Passagen, die makaber und brutal erscheinen und als nicht-wissenschaftlicher Leser tut man sich vielleicht schwer anzuerkennen, dass auch derartige Experimente zum heutigen Forschungsstand beitrugen.

Deutlich wird noch etwas anderes, während Birkhead den Leser durch etliche Epochen Vogelforschung führt: den Vogelforscher, den Ornithologen, gibt es eigentlich nicht. Viele der beteiligten Wissenschaftler waren Anatomen, Mediziner, Physiker, Meteorologen, Naturhistoriker, sogar Maler oder eben Geistliche, und auch die Beobachtungen von Bauern, Fischern oder Arbeitern halfen letztlich, auf die richtige Spur zu kommen.
Waren es anfangs zunächst die Anatomen, die sich mit dem Aufbau von Sinnesorganen beschäftigten, um so etwas über deren Funktionsspektrum zu erfahren, gab es später die Verhaltensforschung, die oft experimentierte und mitunter zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen kam. Durchgesetzt hat sich nicht selten die Ansicht des renommierteren Forschers, egal wie sie aussah. Währenddessen schien viel Zeit bei der Debatte zu vergehen, ob Vögel überhaupt über Sinne verfügten oder nicht.
Oft kamen Erkenntnisse dann zutage, wenn die Disziplinen miteinander kooperierten, wie im Falle der Meeresbiologin Gaby Nevitt, die 1992 durch einen eher unglücklichen Umstand auf den Atmosphärenforscher Tim Bates traf und dank ihm herausfand, wie es Seevögeln gelingt, Nahrung in der Weite des Ozeans durch ihren Geruchssinn aufzuspüren. Diese Erkenntnis war in der Tat bahnbrechend, denn über dem Meer gibt es regelrechte Geruchslandschaften und die Vorstellung vom Vogel, der einer dünnen, flüchtigen Spur von stinkendem Fisch nachjagt, wich plötzlich einem Modell von vielen, sich überlagernden Geruchsstoffen, die offenbar in Zusammenhang mit dem unterseeischen Landschaftsbild und der Fauna dort standen.

Es ist wohl Birkheads langjähriger Erfahrung in der Lehre zu verdanken, dass er das Buch so verständlich schreiben konnte. Fachbegriffe erklärt er ebenso wie historische oder sachliche Zusammenhänge. Alles hinterlegt er mit Quellennachweisen, welche 16 Seiten umfassen, die Anmerkungen zu den Kapiteln füllen 15 Seiten, das Glossar noch einmal vier.
Die sieben Kapitel stecken voller Informationen zu Bau und Funktion von Körper und Sinnesorganen der Vögel. Wissenschaftliche Grundkenntnisse in Biologie und Physik sind dabei sicher von Vorteil. Trotzdem glänzt das Buch mit Verständlichkeit.
Die Fülle der Informationen kann kein Mensch im Kopf behalten, zu komplex ist die Materie. Vielmehr gerät der Leser auf seiner Reise ein ums andere Mal ins Staunen, über die Vögel und ihre Fähigkeiten, aber auch über die Forscher, die Birkhead porträtiert. Und nicht zuletzt staunt man darüber, dass selbst ein so prall mit Erkenntnissen gefülltes Buch, scheinbar noch immer an der Oberfläche dessen kratzt, was die Sinneswelt von Vögeln ausmacht.

Fakt ist auch, dass dieses Buch nicht möglich wäre, ohne sehr viel fleißige Recherchen und jahrzehntelange Erfahrungen. Und zwischen den Zeilen findet sich noch etwas anderes, das dem Buch sehr gut tut: Tim Birkheads (britischer) Humor. Mit trockenem Witz beschreibt er die zum Teil skurrilen Ideen der Wissenschaftler seinerzeit, die einem eigentlich die Tränen in die Augen treiben könnten, aber dann muss man über Birkheads Erzählweise doch schmunzelnd den Kopf schütteln.
Im Kapitel 3 über den Tastsinn geht es um einen Alexander Wilson, der 1794 in North Carolina in den Besitz eines Elfenbeinspechts gelangte – jener nordamerikanischen Spechtart, über deren heutige Existenz nur noch spekuliert wird und der manchen Vogelliebhaber auf der Suche nach ihm zu tagelangen Expeditionen durch unwirtlichstes Sumpfland motiviert. Wilson jedenfalls hatte einen solchen Specht eingefangen, den er zu behalten gedachte. Während Wilson ihn in seinem Hotelzimmer unterbrachte und sich auf die Suche nach Nahrung für den Specht machte, zerlegte dieser in weniger als einer Stunde die Wand des Zimmers und ruinierte anschließend einen Mahagonitisch. Inmitten der Komik dieser Situation schließt Birkhead abrupt mit der Information, dass der Vogel nach drei Tagen starb, sehr zum Bedauern von Mr. Wilson.
Ende der Geschichte. Welch tüchtiger Vogel! Als Leser bedauert man es auch.

Illustrationen

Irritierend ist die Anmerkung auf dem Cover, wenn man das Buch auf der Suche nach Katrina van Grouws Illustrationen – angelockt von dem bezaubernden Flamingo auf dem Schutzumschlag – zu durchforsten beginnt.
Es handelt sich dabei zu Beginn jedes Kapitels um einfarbige Zeichnungen und anatomische Darstellungen, einer Spezialität van Grouws, die sie in ihren Büchern The unfeathered bird und Unnatural selection meisterhaft präsentiert, und auf die Tim Birkhead im Laufe des jeweiligen Kapitels Bezug nimmt. Es sind schöne Skizzen, die etwas Pures, Unverschnörkeltes an sich haben und an die naturalistischen Darstellungen in den Skizzenbüchern der Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts erinnern. Und sie sind in der Tat auch hilfreich, wenn man sich das, was Tim Birkhead erklärt, auch einmal anschauen kann. Wann hat man schon die Möglichkeit, die Asymmetrie der Gehöröffnungen im Schädel eines Bartkauzes oder den vergleichsweise riesigen Riechkolben im Gehirn eines Kiwis zu betrachten?
Und doch gab es während des Lesens Momente, in denen ich dachte: Ein Jammer, hätte man es nicht illustrieren können?

Man sehnt sich danach, eine Vorstellung vom Fettschwalm zu bekommen, über den Birkhead mindestens genau so viel und begeistert schreibt wie Humboldt seinerzeit. Allein der Name kurbelt die Fantasie gehörig an. Oder der Honiganzeiger, den erwärmtes Bienenwachs von praktisch überall her magisch anlockt. Oder den auf Papua-Neuguinea lebenden Pitohui, dessen Gefieder vom vielen Fressen giftiger Wollhaarkäfer ebenfalls toxisch wird.
Aber nicht nur die Darstellung der Vögel wäre eine Bereicherung für das Buch gewesen, zumal es sich an eine breite Leserschaft auch jenseits der Universitäten richtet. Im Kapitel über das Hören verdeutlicht Birkhead, wie das Gehör von Vögeln in der Lage ist, die Virtuosität des Gesangs zu erfassen. Er schreibt:

„Akustische Vorgänge als Sonogramm „sichtbar“ machen zu können, veränderte die Erforschung von Vogelgesängen grundlegend. (…) Erst die Umwandlung eines akustischen Signals in ein visuelles erlaubte uns, einen Eindruck von der vollen Komplexität des Vogelgesangs zu gewinnen und Vermutungen anzustellen, wie viel von dieser Komplexität ein Vogel tatsächlich hört oder versteht.“

(S.48)

Als Beispiel führt er die in Nordamerika vorkommende Schwarzkehl-Nachtschwalbe auf, deren Gesang aus fünf Einzeltönen besteht. Das menschliche Ohr meint, drei Töne zu hören, doch das Sonogramm stellt tatsächlich fünf Töne dar. Der Ornithologe Hudson Ansley, der dieses Phänomen entdeckte, fragte sich in den 1950er Jahren, ob die Nachtschwalben selbst fünf Töne hören, oder wie wir Menschen ebenfalls nur drei. Als man ein Sonogramm einer Spottdrossel anfertigte, die den Gesang der Schwarzkehl-Nachtschwalbe imitierte, sah man erneut fünf Töne und schlussfolgerte, dass die Spottdrossel somit in der Lage war, fünf Töne zu identifizieren.
Eine vergleichende Darstellung der Sonogramme beider Arten wäre interessant gewesen, doch Birkhead lässt uns an dieser Stelle daran teilnehmen, wie beißend er den Geruch in Erinnerung hat, den der Sonograph beim Brennen des Sonogramms auf das Thermopapier verströmte.

Es wäre wie Zuckerguss überm Kuchen, wenn das Buch umfassender illustriert (aber womöglich darin dann doch schon zu populärwissenschaftlich) wäre. Außerdem ist es dem geneigten und motivierten Leser durchaus zuzutrauen, im Sinne der Forschung eigenständig nach Fettschwalmen und Baumhopfen zu suchen, wenn schon nicht in natura, dann wenigstens im Internet.

Der Autor

Tim Birkhead ist seit 1976 Professor für Verhalten und Evolution an der Universität in Sheffield und einer der bekanntesten britischen Ornithologen unserer Zeit. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Reproduktionsbiologie, insbesondere der Aspekt der Promiskuität bei Vögeln, sowie seine Studien zu den Trottellummen auf Skomer Island (Wales), welche er seit Beginn seines Studiums 1972 betreibt und die er in sein Buch mit einfließen lässt.

Als deutsche Ausgabe ist bisher leider nur Bird Sense erschienen. Bedauerlich, da viele der Titel von Birkhead neugierig machen. Seine neuesten Werke sind Ten thousand birds (2014), The most perfect thing (2016) und The wonderful Mr. Willughby (2018).

Es bleibt also zu hoffen, dass die Begeisterung der Leserschaft im deutschsprachigen Raum zu weiteren Übersetzungen führt.

Fazit

Persönlich gefällt mir sehr, was Tim Birkhead in seinem Buch mitschwingen lässt. Nicht als erhobenen Zeigefinger, sondern vielmehr als leisen Unterton. Es ist die Erkenntnis, dass der Mensch bei Weitem nicht so viel weiß, wie er meint. Mehr als es die Jahrhunderte alte, christlich verbrämte Haltung vom Menschen als Maß aller Dinge je vermochte, liegt im unvoreingenommenen Betrachten der Schlüssel für Verständnis. Eine Erkenntnis, die mir lauter und eindringlicher zu werden scheint und von einem allmählichen Umdenken zeugt, in welcher Art wir der Natur und ihren Geschöpfen in den zukünftigen Zeiten begegnen wollen.
Tim Birkhead ermutigt sehr zu dieser Einstellung in der Forschung, genau wie zur Forschung selbst, und richtet sich damit nicht nur an Studenten und Doktoranden, sondern er bezieht den Leser in das Umdenken ein. Es gelingt ihm zu faszinieren mit der Fülle an Informationen über die Erkenntnisse, wie ein Vogel die Welt wahrnimmt. Diese Wahrnehmung, die ungewöhnlich und schön und unserer eigenen zum Teil weit überlegen ist.
Während der Lektüre begreift man sie immer mehr als hochspezialisierte, perfekt angepasste Organismen, deren erstaunliche Fähigkeiten auf ihren beeindruckend gebauten Sinnesorganen beruhen. Das macht sie zu dem, was sie sind und was sie von uns unterscheidet: zu Vögeln.

Übrigens: das Buch widmet Tim Birkhead – ganz ohne Abbildung – den Sylphen, einer südamerikanischen Kolibriart, weil sie für ihn, auch wenn er zugibt, die Frage nach dem Lieblingsvogel lange für etwas müßig gehalten zu haben, die schönsten unter allen Vögeln sind.

„Das erste Treffen mit einer Himmelssylphe in Ecuador versetzte mich in eine Hochstimmung, die mehrere Tage anhielt. Die Sylphe war so exquisit, dass ich sie besitzen, sie fangen und behalten wollte, weil sie so schön war. Eine Fotografie reicht nicht aus, denn sie kann dem Vogel nicht gerecht werden, auch deshalb, weil ein einzelnes Bild die volle Essenz des Vogels nicht einfangen kann.“

(S.150)

Datenblatt

Titel: Die Sinne der Vögel oder Wie es ist, ein Vogel zu sein
Autor: Tim Birkhead
Illustration: Katrina van Grouw
Übersetzung: Monica Niehaus
Einband: gebundene Ausgabe; XXII, 208 Seiten
Auflage: 2., Ersterscheinung: 23. April 2015
Verlag: Springer Verlag
ISBN: 978-3-662-55864-5

Links

„Die Sinne der Vögel“ beim Springer Verlag mit Leseprobe

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„The unfeathered bird“ auf der Homepage der Autorin Katrina van Grouw

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