„Das große Buch der Vögel“ von Nathalie Tordjman

Eine „Erfindung“ unserer Tage ist das Hobby der Ornithologie nicht. Viele begeisterte und studierte Vogelbeobachter sind in diese Leidenschaft von Kindesbeinen an hineingeführt worden, ganz ohne Fachbuch oder Stimmerkennungs-App. Die sehr viel ländlicheren und naturnaheren Lebensräume unserer Eltern und Großeltern machten es kleinen Entdeckern leicht. Auch das Wissen ihrer Eltern und Großeltern um die Natur war noch vielfältiger. Der Zeitgeist fordert inzwischen andere Kompetenzen, nicht selten zulasten der Natur.

Umso wichtiger sind Bücher wie dieses. Ganz auf die jüngere Leserschaft zugeschnitten, reich bebildert, kurzweilig und verständlich geschrieben und mit einer klaren Struktur aufgebaut, berührt es nahezu jeden Bereich im Leben eines Vogels, stellt weit über einhundert heimische und einige exotische Arten vor und vermittelt so manch Wissenswertes, worüber auch Erwachsene (wieder) staunen können.

Aufbau und Inhalt

Gute Kinderbücher erkennt man daran, dass sie die entscheidenden Fragen stellen, nämlich Kinderfragen: Warum sehen Schnäbel so verschieden aus? Was macht ein Vogel nachts? Was macht der Vogel mit den Knochen, die er samt dem Beutetier verschlungen hat? Warum bauen Vögel Nester? Wie kommt das Küken aus dem Ei? Wie viele Vögel gibt es?
Natürlich wird keine dieser Fragen so im Buch gestellt und oft gibt es auf Kinderfragen auch keine schnelle, einfache Antwort. Vielmehr nimmt die Autorin solche Fragestellungen als Grundgerüst. In fünf großen Kapiteln – Körperbau, Nahrung, Bewegung, Fortpflanzung und Lebensräume – erklärt es die Zusammenhänge zwischen Schnabelform und Nahrung, Nestbau und Fortpflanzung, heimischen Arten und Zugverhalten und dergleichen mehr.

Mir als passionierter Vogelfreundin und –beobachterin gefällt an dem Buch das große Spektrum an Arten und Fakten, die vorgestellt werden. Oft sind diese so nützlich im Gespräch mit meinen Kindern und das einfachste ist es dann, das Buch aufzuschlagen.
Auch die Details, die in Übersichtswerken oft zugunsten der Themenvielfalt den Kürzeren ziehen, finden sich in diesem Buch. Da wird die Nickhaut erklärt, oder der Unterschied zwischen Gewölle und Speiballen, oder dass alle Vögel aufgrund fehlender Blase immer einheitlich breiige Kleckse machen und  weder Kauen noch Beißen, sondern grundsätzlich nur Schlingen. Die unterschiedlichen Flug-Tauch-Techniken von Wasservögeln werden angesprochen, ebenso wie die Federarten oder die wichtige Frage, was einen Vogel denn nun eigentlich zum Vogel macht. Schließlich gibt es noch mehr Tiere, die Eier legen, Nester bauen und  Schnäbel aus Horn haben. Und nur weil etwas Federn hat, bedeutet das noch nicht, dass es auch fliegen kann.

Die Themenbereiche werden ergänzt durch Quizfragen, die mitunter recht kniffelig sind. Eine Auflösung nebst Register aller behandelten Arten findet sich am Ende des Buches. Den Abschluss jedes Kapitels bildet ein Suchbild, bei dem über das Gelernte hinaus noch einige neue Aspekte vermittelt werden, zum Beispiel der Lebensraum einzelner Arten und ihre Fortbewegung, Ernährung oder Lebensweise.
Das Buch bietet unter der Rubrik „Der Vogel und du“ einige Aktionsvorschläge – neben der (fast schon obligatorischen) Installation eines Nistkastens oder der (nicht weniger obligatorischen) Herstellung von Futter gefallen mir die Tipps zur Vogelbeobachtung sehr gut. Dabei geht es um das Erkennen von Unterschieden in Körpergröße und -form, Gefiederfarbe, dem Verhalten und der Fortbewegung. Das Stillwerden, Beobachten, Lauschen, vielleicht im Kern schon die innerliche Entscheidung, zur Ruhe zu kommen und dann auch die Spannung und die Euphorie zu spüren, die mit dem Beobachten von Vögeln und Tieren allgemein einhergeht, halte ich für eine sehr wichtige Erfahrung für Kinder, um die Natur schätzen und lieben zu lernen. Denn dies ist persönliche Voraussetzung für den aktiven Schutz der Natur.

Die Autorin

Die 1956 geborene Französin Nathalie Tordjman schreibt als Autorin und Wissenschaftsjournalistin hauptsächlich über Natur und Umwelt. Sie lebt in Paris und der Normandie. Ihr Schaffenswerk umfasst über 40 Titel. So erschienen von ihr zahlreiche Kinderbücher zu Tieren und ihren Lebensräumen sowie geschichtlichen Themen. Darin verfolgt sie das Ziel, jungen Lesern Wissen auf verständliche Art zugänglich zu machen. Außer „Das große Buch der Vögel“ sind bislang auf Deutsch erschienen: „Tiere. Von der Arktis bis zur Wüste“ (2007) und „Alle deine Zähne“ (2008).

Die Illustrationen und ihre Schöpfer

Die Illustratoren Julien Norwood und Judith Gueyfier sind in ihrem Schaffen sehr verschieden und ergänzen sich in diesem Buch doch ganz wunderbar. Ihre Stile sind durchaus unterschiedlich und harmonieren zugleich so gut zusammen, dass es einen zweiten Blick braucht, um es zu erkennen.
Beiden gemein ist, dass ihre Darstellungen realistisch sind, die Vögel und ihre spezifischen Merkmale sehr gut herausgearbeitet wurden und so wesentlich dazu beitragen, dass das Buch einen hohen Informationsgehalt hat. Schon auf dem Vorsatz sind diverse Vogelarten abgebildet, sowohl von Norwood als auch von Gueyfier.

Julien Norwood ist naturalistischer Zeichner und hat bislang an mehr als einem Dutzend Publikationen mitgewirkt, arbeitet aber insbesondere für das Nationale Museum für Naturgeschichte in Paris.
In seinen Zeichnungen für dieses Buch geht er oft ins Detail, stellt Flugbewegungen, Anatomie, Körperteile und ihre Besonderheiten dar und das auf eine angenehm nüchterne und präzise Art, die es Kindern leicht macht, das Erklärte zu begreifen, ohne dass die Schönheit seiner Kunst dabei untergehen würde.

Judith Gueyfier hat in Brest und Paris Kunst und Visuelle Kommunikation studiert, hat sich aber auch von nordafrikanischen Einflüssen inspirieren lassen. „Ich liebe es, das Reale und das Imaginäre zu mischen“, schreibt sie auf ihrem Blog über ihre Kunst. „Vielleicht male ich deshalb Geschichten, die nach anderswo aussehen…“
Ihren Bildern wohnt etwas Verträumtes und  Liebliches inne. Es ist ihr besonderer Stil – die farbigen Hintergründe mit den Collage-artigen Zeichnungen, den Mustern und Strukturen und den kräftigen, leuchtenden Farben – den sie in ihren über 25 illustrierten Büchern präsentiert.

Fazit

Das Buch ist natürlich nur ein Anriss dessen, was es über Vögel zu erzählen gäbe und doch bietet es auf fast achtzig Seiten Wissen fürs Grundschulalter. Gerade für diese Altersgruppe gibt es selten einmal ein gutes Sachbuch über Vögel, was das Buch zu einer kleinen Rarität macht. Ich habe „Schmökerbücher“ wie dieses als Kind sehr geliebt. Sein Detailreichtum, sowohl grafisch als auch inhaltlich, dürfte selbst Erwachsenen Freude bereiten.
Trotzdem ist es in erster Linie ein Buch für Kinder. Als solches kann es begeistern und neugierig machen, den Forschergeist wecken und Lust auf eigenes Erleben fördern. Insofern mag es auch für Erwachsene eine Art Begleitbuch sein, wenn sie ihren Kindern die Welt der Vögel näherbringen und sie in ihre eigene Faszination an den Gefiederten „hineinflattern“ lassen möchten.
Und nicht vergessen, in Wald und Flur hinaus zu gehen…

Datenblatt

Titel: Das große Buch der Vögel
Autorin: Nathalie Tordjman
Illustratoren: Julien Norwood, Judith Gueyfier
Einband: gebundene Ausgabe, 80 Seiten
Ersterscheinung: 22.02.2018
Verlag: FISCHER Meyers Kinderbuch
ISBN: 978-3-7373-7206-0

Links

„Das große Buch der Vögel“ von Nathalie Tordjman
Auf der Homepage des FISCHER Meyers Kinderbuchverlag.

Homepage und Portfolio von Julien Norwood
auf der er zahlreiche Illustrationen präsentiert
(französisch)

Blog von Judith Gueyfier
mit einer umfangreichen und fortlaufenden Präsentation ihrer Arbeit
(französisch)
Einblicke in die Arbeit von Judith Gueyfier gibt es auf der Homepage der Bibliothek Louise Michel, einem Stadtteiltreff im 20. Arrondissement von Paris
(französisch)

  

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