Anklamer Stadtbruch – Herbstimpressionen

Vermag ein Bild auch mehr als tausend Worte zu sagen, so fehlt einem Bild vom Anklamer Stadtbruch in jedem Falle doch der Klang: das Rufen der Kiebitze und Kraniche, das Schnarren der Kormorane und Pfeifen der Limikolen, das ferne Röhren der brünftigen Hirsche, das Säuseln des Schilfs und die beeindruckende Stille, die über dem Moor liegt, wenn die Kraniche auf die Äcker davongezogen sind.


– Episode Eins –

Morgenspaziergang am Mühlgraben

Ein Morgen am Mühlgraben, unterwegs in den Stadtbruch. Die Sonne durchdringt bereits den Nebel, der über dem Moor und den Wiesen liegt. Alles ist nass vom Tau und für den Morgenspaziergang empfehlen sich einzig Gummistiefel.
Vom Deichweg entlang des Mühlgrabens schaut man über die dunklen Wiesen. Die Luft ist klar und frisch, kühl und feucht. Der Tag verspricht noch einmal spätsommerlich zu werden und wird den erdigen Herbstgeruch des Morgens rasch mit sich fortgenommen haben.
Ich höre die Kraniche über mir, ihren Vielklang an trompetenden Rufen. Seit gestern Abend weiß ich – und höre es nun auch – dass die Jungvögel diesen Ruf noch lernen müssen. Sie pfeifen stattdessen wie Küken eben pfeifen, nur lauter.
Auf der anderen Seite des Mühlgrabens holt sich das Moor den Wald. Die Silhouetten der toten Bäume sind weniger geworden, scheint es mir, seit ich vor anderthalb Jahren hier vorbei ging. Sie verwittern in Stürmen und unter der sengenden Sommerhitze, fallen um und verschmelzen mit der Erde, in der sie einst gediehen.
Im Nebel taucht die Holzbrücke auf, die den Zugang zum Naturschutzgebiet makiert. Seit 25 Jahren regeneriert sich hier eine uralte Moorlandschaft.
Der Mühlgraben zieht weiter seine Bahn zum Stettiner Haff. Ich quere ihn und folge dem ehemaligen Forstweg in den Stadtbruch, wo der Nebel sich etwas lichtet und der Sonnenaufgang seine Farben verliert.

Die Welt wird nun vertikal. Sichtachsen und Schneisen lenken das Auge, mal hin zum Licht an ihrem Ende, mal in die Verborgenheit des Dickichts.

Ich folge dem Weg vorbei am Knechtsort. Um mich herum das Rufen der Hirschbullen, mal näher, mal ferner. Es hallt durch den stillen Wald, bedrohlich und doch faszinierend, zu sehen bekomme ich keinen von ihnen und bin auch nicht wirklich traurig darüber.
Am alten Heuweg mache ich kehrt, zu dicht ist mir der weitere Wegverlauf zugewachsen. Zurück am Mühlgraben kann ich Seeadler beobachten, einer der besten Plätze im Stadtbruch dafür.
Inzwischen steht die Sonne über den lockeren Wolken und löst mit ihrer wärmenden Kraft die letzten kühlen Nebelbänke. Über dem Schilf treffen sich zwei Graureiher an einer morschen Baumstele, als hätten sie sich hier verabredet. Ein kurzes Palaver, unmusikalisch wie sie nun mal sind, und dann machen sich die beiden auf in die Wiesen, um nach Nahrung zu suchen.

Es ist, als öffnete sich ein Vorhang, und all die Schönheiten, die man vorher nur flüchtig oder gar nicht wahrgenommen hat, springen einen geradezu an, als wäre das Auge plötzlich scharf gestellt.

Vom „Lob des Stehenbleibens“ berichtet Arnulf Conradi
in Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung (S. 78)


– Episode Zwei –

Begehrlichkeiten

Der späte Nachmittag am Polder ist eine Zeit der trägen Geschäftigkeit. Zwar suchen alle nach Nahrung, doch eine zufriedene Erschöpfung macht sich unter den Vögeln breit und lässt den ein oder andern näher zusammenrücken. Es ist die Ruhe vor dem Ansturm, dem Kranicheinflug, der mit dem Sonnenuntergang noch einmal für ein gewaltiges Spektakel sorgen wird.
Meisterhaft balanciert die Bekassine auf einem Schilfgrasstumpf. Mit ihrem langen Schnabel stochert sie darin nach Nahrung, die meist aus Insekten und Weichtieren besteht. Aber auch ihr wird der Tag allmählich lang. Mit ein paar Flügelschlägen fliegt sie vom Polder ans Ufer der Rosenhäger Beck, verschmilzt dort gut getarnt mit den Schilfhalmen und nickt ein.
Die Dunkelwasserläufer sind zahlreich im Bugewitzer Polder. Ich mag ihre unbekümmert und selbstbewusst wirkende Art, mit der sie zwischen all den anderen Arten ihren Platz behaupten. Schön zu beobachten ist ihre Jagdtechnik, bei der sie – nun ja – eben durchs Wasser laufen, während sie mit ihren Schnäbeln untertauchen und kleinen Fischen, Krebsen und Weichtieren nachspüren.
Zahlreich sind auch die Kiebitze in den Poldern vertreten. An ihnen ist einfach alles schön. Das schillernde Gefieder, die Federholle am Kopf, wie sie einbeinig mit den Köpfen unterm Flügel in der Morgenkälte dahocken oder mit ihrem charakteristischen ki-witt in einem Schwarm aufsteigen, wie sie mit derben Attacken Rohrweihen und Seeadler vom Platz verweisen und dass sie überhaupt da sind.
Rosa wölbt sich der Abendhimmel über den Stadtbruch, klar und wolkenlos, fast schon etwas kitschig. Je mehr die Sonne zum Horizont wandert, umso intensiver werden die letzten Farben des Tages.
Mit der tieferstehenden Sonne bekommt auch das Wasser einen intensiven kupferfarbenen Glanz. Blutrot, apokalyptisch. Und tatsächlich liegt eine gewisse Anspannung in der Luft. Der Polder ist in Erwartung. Die Reiher schreiten unruhig umher und auf der Wasserfläche wird es leerer. Die Limikolen rücken dichter an die Schilfinseln.
Und dann kommen sie…

Sicher, jetzt stehe auch ich hier und mache Fotos und kleine Filmsequenzen. Während des Tages habe ich keinen von ihnen gesehen. Nicht am Turm, nicht auf dem alten Bahndamm Richtung Kamp, oder am Peenestrom, auch nicht im Wald oder entlang der Rosenhäger Beck. Das ist schade, denn es zeigt, dass es hier für sie nichts Interessanteres oder Lohnenswertes zu geben scheint, als das „große Spektakel“. Am Abend sind sie da, pünktlich zum Sonnenuntergang. Sie reihen sich entlang des Radwegs wie Perlen auf einer Schnur, mit großen Teleobjektiven, mit denen man bis in die Mondkrater blicken kann. Manche bringen so viel Technik mit, dass sie ihren Kombi gleich auf dem Weg parken müssen, direkt neben dem Polder. Dazu Klappstühle, Freunde, Bier. Der Kranich verkommt zu einem Objekt der Begierde. Und das, wo wir doch wissen, was geschieht, wenn der Mensch etwas begehrt.


In der leergeräumten Natur fühlen sie sich so allein, daß sie sehnsüchtig die schrumpfenden Reste ungestörter Wildnis aufsuchen. Die „Jagd“ mit der Kamera kann dann ebenso beunruhigen wie die mit der Schußwaffe, zumal sie ohne Jägerprüfung ausgeübt wird, ohne Regeln und Rituale, oft ohne Respekt und Ehrfurcht, nur um der Beute willen: Schaut, was ich Rares entdeckt, beobachtet, eingekastelt habe!

Von der Gefahr des Ökotourismus und dem schmalen Grat zwischen Naturliebhaber und Ausbeuter schreibt Barbara von Wulffen auf ihre komplexe, kluge und doch unaufgeregte Art in Von Nachtigallen und Grasmücken (S. 336)


Schnell zieht nun die Nacht herauf, doch noch lange wird man die Kraniche rufen hören. Auch die Hirschbullen im Wald hinter dem Polder röhren in der Dunkelheit. Aus den Wiesen steigen Wärme und Feuchtigkeit auf und bilden erste zarte Schleier. Bis zum Mogen wird daraus dichter Nebel entstanden sein, aus dem erneut die Rufe der Hirsche und der Kraniche dringen.

Episode Drei –

Entdeckungen im Polder

Über dem Haff geht die Sonne auf und der Polder erwacht zum Leben. Mit dem ersten Licht beginnt die Nahrungssuche der Enten, Limikolen und Reiher, die Kraniche werden unruhig und rüsten sich zum Aufbruch und aus dem Wald klingt bereits wieder das Röhren der Hirsche.

Der Himmel war heute Morgen verschleiert von dünnstem Gold, selbst der weiße Wolkenfilm flirrte golden. Birken, Gras, Ebereschen angedorrt und gebleicht nach der langen Trockenheit, aber heute sah es aus wie Spuren von Gold.

Über einen Morgen im September aus Claudia Kopperts
wunderbaren Erzählungen Im Vogelgarten (S. 128)


Dann ist es soweit. Die Kraniche brechen auf, ziehen in kleineren und größeren Trupps auf die Äcker fort. Über eine Stunde dauert es, bis ihre Rufe endlich verhallt sind. Da steht die Sonne schon am Himmel, der sich nun in sattem Blau kleidet und noch einmal einen sommerlich warmen Tag verspricht.
Im Polder bei Rosenhagen ist es noch still. Dort sind Pfeifenten, Kiebitze und Bekassinen, aber alle haben noch die Köpfe unterm Flügel. Und doch ist schon jemand wach…
In den ersten wärmenden Sonnenstrahlen taucht ein Trupp Bartmeisen auf. Die ausgesprochen geselligen Vögel nutzen den Tagesanbruch, sich die klamme Nachtkälte aus dem Gefieder zu putzen.
Rasch steigen die Temperaturen. Auf dem ehemaligen Bahndamm wölben sich reich mit Früchten beladen die Weißdorne über den Schotterweg. Es ist ein Fußweg, ungeeignet für alles durch Räder bewegte, mit einer hervorragenden Aussicht auf die Polder und, weiter Richtung Haff, die Kormorankolonie. Der drei Kilometer lange Weg führt schnurgrade auf Kamp zu. Man sollte früh aufbrechen, um nicht unbedingt während der gleißenden Mittagszeit hier unterwegs zu sein.
In den toten Baumgerippen hocken hunderte Kormorane, dazwischen die jungen Seeadler. Weiter östlich verschwinden die Bäume und das flache Wasser gibt Sandbänke frei, auf denen die schwarzen Vögel dicht an dicht hocken. Es riecht streng, wie im Flamingogehege eines Zoos.
Junge Seeadler balgen sich. Es ist die Zeit des Jahres, in der sie von den Altvögeln verlassen werden und sich fortan selber um Nahrung kümmern müssen. Der Hunger macht sie nervös und oft kann man ihre ratlosen Rufe hören. Die Altvögel dagegen haben jetzt wieder mehr Zeit für sich.
Bei Kamp, am Ende des Bahndammes, stehen die Überreste der Eisenbahnhubbrücke im Peenestrom, belagert von einem Trupp Mantelmöwen. Die kleine Landzunge, mit Blick auf die Insel Usedom und die vorbeiziehenden Boote, ist ein wunderbarer Ort zum Innehalten und Reflektieren.

Auf der Straße von Kamp nach Bargischow geht es zurück bis zur Mündung der Rosenhäger Beck in den Peenestrom. Auf der Straße liegt eine Ringelnatter eingerollt auf dem warmen Asphalt, als würde sie schlafen. Die Postfrau kommt von Kamp herangefahren, hält an und schaut zu, wie ich die Schlange an den Straßenrand bugsiere. Sie guckt betroffen. Vielleicht, weil sie nicht ausschließen kann, dass sie vor ein paar Minuten mit ihrem T5 über das Reptil gerauscht ist, als sie die Post nach Kamp brachte. Sie ist überrascht, als sie hört, dass entlang der Straße auch Kreuzottern lagen. Aber dann überlegt sie und zählt einige der Tierarten auf, die im Schilfsaum am Peenestrom und im Polder auf der anderen Seite der Straße leben: Wildschweine, Füchse, Kraniche, Rehe… Unerwartete Artenvielfalt?
Abends in Bugewitz bei einem Bier in der Dorfgaststätte erzählt Günther Hoffmann auch von Fischottern. Er ist jeden Tag im Stadtbruch unterwegs als Naturführer und vor allem als Beobachter. Zerknirscht ist er wegen des toten Fischotters, den er tags zuvor bei einem Streifzug fand.
In dem Örtchen Kamp wohnt eine Handvoll Menschen am Ende einer Sackgasse. Dass die Tiere dem Durchgangsverkehr zum Opfer fallen, ist unwahrscheinlich. Eher ist der wachsende und rücksichtslose Verkehr, den manche Naturbeobachter und Fotografen mit sich bringen, dafür verantwortlich zu machen.

Der Radweg entlang der Rosenhäger Beck bietet schöne Ausblicke über den Polder bei Kamp. Es ist der einzige Ort hier um den Anklamer Stadtbruch herum, an dem ich mir als Veränderung einen weiteren Beobachtungsturm wünschte, um besser über die Schilfgürtel auf die Schlammflächen blicken zu können. Dort nämlich tummeln sich Kiebitzregenpfeifer, Pfuhlschnepfen, Alpenstrandläufer, Kiebitze und wer weiß noch was alles. Aber es ist eben schwer einsehbar. Zwar lenken solche Einrichtungen die Besucher besser an einen Ort und verhindern (vielleicht), dass sich die Beobachter eigenmächtig „in die Büsche“ schlagen.
Ob dem Gebiet ein dritter Turm aber gut täte?

Weitere Infos

Verwendete Zitate

Arnulf Conradi: Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
Verlag Antje Kunstmann
ISBN 978-3-95614-289-5

Barbara von Wulffen: Von Nachtigallen und Grasmücken. Über das irdische Vergnügen an Vogelkunde und Biologie
FISCHER Taschenbuch
ISBN 978-3-596-15396-1

Claudia Koppert: Im Vogelgarten. Erzählungen
Verlag Atelier im Bauernhaus
ISBN 978-3-96045-025-2

Alle Zitate mit freundlicher Genehmigung der Verlage.

Mehr Blogbeiträge

Foto: Frank Brehe
Eine eindrucksvolle Fotodokumentation vom Anklamer Stadtbruch bietet der Naturfotograf Frank Brehe auf seinem Blog. Seine Bilder zeigen stimmungsvolle Momentaufnahmen, in denen sich Farben, Atmosphäre, Stille und Dynamik zeigen, wie sie im Anklamer Stadtbruch zu erleben sind. Die Bilder geben einen Einblick in den Lauf der Jahreszeiten und die artenreiche Tierwelt „Im Bruch“.

Mein erster Beitrag zum Anklamer Stadtbruch erzählt von meinem Besuch dort im April 2019. Außer dem Umstand, dass es damals Frühling war, machte es einen Unterschied, dass kaum Kraniche da waren. Dafür war Ostern und auch da kommen Menschen auf seltsame Ideen in der Natur.
Wie lohnenswert ein Frühlingsbesuch ist, welche Touren man machen und weshalb man Bugewitz einen Besuch abstatten sollte, kann man ebenfalls darin lesen.

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