Jede der sieben Kanareninseln hat ihre eigene Formel, um das Wesentliche zu beschreiben, das sie ausmacht. Bei Fuerteventura sind es Vulkane, schroffe Berg- und Küstenlandschaften, Wüsten, Sandstrände und Ziegen.Bei den Ziegen beginnt meine Vogeltour auf der Insel auch, genau genommen an einer kleinen Ziegenfarm in der Nähe von Villaverde.
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An meinem ersten Morgen bei den Ziegen begegne ich einer Gruppe Vogelbeobachter aus Deutschland, eine dieser Fügungen, die unmöglich etwas mit Zufall zu tun haben können. Für ein paar Augenblicke darf ich mich ihnen an die Fersen heften und bekomme eine Art Einsteiger-Crashkurs verpasst: Raubwürger, Kanarenpieper, Kanarenschmätzer, Stummellerchen und auch bereits erwähnte Sandflughühner. Eine gute Woche später werde ich wieder hier stehen, als letzte Station meiner Birdingtour. Zwischen diesen beiden Eckpfeilern meiner Reise werde ich einen ersten Eindruck von der Essenz Fuerteventuras gewinnen können. Und ganz ehrlich, es ist mit das Beste, was man im Januar tun kann, um dem unerträglichen Winter Mitteleuropas zu entkommen.
Die weiten Ebenen nordwestlich von Tindaya sind trotz ihrer Kargheit ein wahrer Magnet für Vogelbeobachter. Im Schritttempo rattern sie in den Morgen- und Abendstunden über die staubigen Pisten, welche die Landschaft halbwegs zugänglich machen. Die Geröllwüste ist überzogen mit dem stacheligen Strauch-Dornlattich, einer der typischsten Pflanzen Fuerteventuras. Zwei Drittel der Inselfläche sind mit diesem Busch bewachsen. Die wenigen Kanarischen Dattelpalmen, die aus der Ebene ragen, kann man an einer Hand abzählen. Einmal fahre ich an einer Aloepflanze vorbei, deren Blütenstand sich meterhoch in den Morgenhimmel schiebt.
Los geht’s mit dem Sonnenaufgang, denn in den Ebenen wird es schnell warm und mit der Hitze beginnt die Luft zu flirren | DerStrauch-Dornlattich (Launaea arborescens) ist die dominanteste Pflanzenart auf Fuerteventura und eigentlich überall zu finden | Dank ihrer meisterhaften Tarnung wird die Suche nach derSaharakragentrappe (Chlamydotis undulata fuertaventurae)zur Herausforderung
Von Tindaya aus erstreckt sich die Geröllfläche über sechs Kilometer bis an die Westküste, und nochmal so weit bis nach Norden zu einem Barranco. Ein riesiges Areal also, in welchem ich mich etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang anschicke, eine Saharakragentrappe ausfindig zu machen. Der „Hauptweg“ von Tindaya aus führt schnurgerade nach Nordwesten auf die Küste zu. Es ist eine durchlöcherte Asphaltstraße, bei der man gut daran tut, auf jedes einzelne Schlagloch zu achten, statt sich in der Umgebung nach unfassbar gut getarnten Trappen umzusehen. Ich beschließe also gleich zu Beginn einem Abzweig nach links Richtung Küste zu folgen. Die Schotterpiste ist in deutlich besserem Zustand. Ein, zwei Mal biege ich ab und bin schließlich so richtig mitten drin in den llanos. Aber ich suche nach der Stecknadel im Heuhaufen, zumal ich so eine Saharakragentrappe noch nie gesehen habe. Ich weiß, dass die Trappe mir da ein bisschen entgegenkommen muss. Ein kleiner Seufzer entfährt mir, gefolgt von dem wenig sportlichen Gedanken, dass es doch einfach saugut wäre, wenn mir der Vogel zufällig vors Auto läuft. So was passiert schließlich immer wieder. Warum nicht hier und jetzt?
Ich rolle die Straße Richtung Küste weiter, suche mit dem Fernglas die Ebene ab, steige aus und lausche, doch außer fernem Hundegebell und dem Sausen des Windes über dem Land, ist es still. Nach anderthalb Kilometern endet die Piste im Nichts. Hin und wieder ein zerfallenes Gebäude und terrassenartige Anlagen, deren Zweck mir nicht ersichtlich ist. Irgendwo etwas abseits der Straße zeigt das Satellitenbild ein Wasserbecken. Es erinnert ein bisschen an die kleine Ziegenfarm, die ich tags zuvor bei Villaverde gesehen habe. Ich wende den Wagen und beschließe, nun doch der löchrigen Asphaltstraße zu folgen, so wie das an diesem Morgen noch ein paar andere Leute machen. Ich bin noch keine fünfzig Meter weit gefahren, als plötzlich vorm Auto ein brauner Schatten auf dem kleinen Wall entlang huscht, den die Planierraupen hinterlassen haben, als sie die Piste aus dem Boden schabten. „Das ist sie!“, denke ich triumphierend und halte an.
Auch der Vogel hält inne, schaut über die Schulter zu mir zurück und wartet ab. Ich bin schon mit der Kamera bewaffnet und schiebe das Objektiv langsam zwischen Wagen und Rückspiegel hindurch. Es ist tatsächlich eine Saharakragentrappe, wie bestellt einfach aufgetaucht. Aufmerksam läuft sie in einem kleinen Bogen links am Auto vorbei. Besser geht’s wirklich nicht. Sie ist wunderschön! Ihre Bewegungen sind eine Mischung aus dem Kopfruckelgang der Taube und dem bedächtigen Schreiten eines Emus, ihre Augen hell und wachsam, beinahe stechend, wären da nicht die Augenbrauen, die leicht nach unten geschwungen ihrem Blick etwas geradezu Verführerisches verleihen. Ihre Gefiederzeichnung ist in herrlichen Brauntönen geschuppt und ich muss die ganze Zeit an einen Parasolpilz denken. Ein Kennzeichen der fuerteventurischen Saharakragentrappen (Chlamydotis undulatafuertaventurae) ist, dass sie dunkler und kontrastreicher sind als ihr Pendant vom afrikanischen Kontinent. An diesem Morgen entdecke ich noch zwei weitere Trappen, weiter nördlich auf der Asphaltstraße und in ähnlicher Distanz zum Auto. Drei Stecknadeln im Heuhaufen – ich bin sehr zufrieden.
Die kanarische Unterart des Turmfalken (Falco tinnunculus canariensis) hat ein dunkleres Rückengefieder, was sich insbesondere an den Weibchen zeigt. Das Gefieder der Männchen wirkt intensiver, bunter und kontrastreicher | Auf einem Zaun in Tindaya halten Wüstengimpel (Bucanetes githagineus amantum, ebenfalls eine kanarische Unterart) ein Schwätzchen in der Morgensonne. Ihr angeregtes, melodisches Zwitschern zieht einfach die Aufmerksamkeit auf die prächtigen, rosa überhauchten Finken
Fuerta ventura – das kann man übersetzen mit „starkes Wagnis“. Das erzählt vom Risiko, von Ungewissheit und der allgegenwärtigen Möglichkeit des Scheiterns. Es spricht aber auch von Mut und dem Trotz, mit dem sich Widrigkeiten entgegengestellt wird, vom bereits zu erahnenden Erfolg und Lohn für die Mühe. Nun bin ich nicht wie ein Weltumsegler hier gestrandet, und auch wenn fünf Stunden Flug kein Kinkerlitzchen sind, so doch um Längen komfortabler als es eine Schiffsreise vor einigen hundert Jahren war. Dennoch ist eine Birdingreise immer auch eine Reise ins Ungewisse. Ich habe, wie immer bei solchen Touren, im Vorfeld eine Liste gemacht mit all den Arten, die ich der Insel zu entlocken hoffe. Die wahrscheinlichen und die weniger wahrscheinlichen. Manchmal bewahrt sich ein Ort seine Geheimnisse auch. In meinem Fall ist es der Rennvogel, den Fuerteventura nicht preisgibt. Weder hier in Tindaya, noch im Naturpark Jandía, noch in den Dünen von Corralejo. Es passiert mir immer wieder, dass ich mit leeren Händen heimkehre, obwohl ich auf eine Art sehr gehofft hatte. Ich sehe es als eine Art Tribut an die Natur, eine Anerkennung, dass sie größer, stärker und unkontrollierbar ist und dabei doch so großzügig für jeden, der genauer hinschaut.
El Cotillo und das Kap Tostón
Die kleine Stadt im Nordwesten Fuerteventuras ist kein Juwel verglichen mit Tindaya oder Betancuria. Sie kann auch nicht mit den großen Touristenstädten Morro Jable und Costa Calma im Süden mithalten. Sie hat eher den Charme eines letzten Außenpostens, an dem sich alles zusammenfindet: die Jungen, die Alten, die Aufbrechenden, die Aussteiger, die Verweigerer. Generell scheint der Norden der Insel eher denen zu gehören, die mal für eine Weile aus ihrem gewohnten Umfeld und ihren Routinen ausbrechen wollen, die im Wohnmobil oder Kleinbus herumfahren, die ihr Surfbrett und den Hund dabei haben, die in den Dünen unterm Sternenzelt schlafen, wenn es sein muss. Und El Cotillo ist so etwas wie das Zentrum dieser Parallelwelt. Zumindest im Januar.
Im Süden und Norden der Stadt erstrecken sich Küsten, an denen ein Sandstrand dem nächsten folgt. Nach Süden wird die Küste steiler, nach Norden verliert sie sich in der Gezeitenzone des Ozeans. Dort, am Leuchtturm von Tostón, herrscht Ebbe, als ich zum ersten Mal ankomme. In den Felsenriffen rings um das Kap brechen mächtige Wellen. Sie scheinen aus verschiedenen Richtungen anzurollen, kreuzen sich und bilden meterhohe Wasserwände, bevor sie über den schwarzen, zerfurchten Steinen brechen und auslaufen. Mehr als einmal beobachte ich, wie Leute dieses Spektakel betrachten und über den Gang des Wassers und des Windes fachsimpeln.
Regenbrachvogel (Numenius phaeopus) | Seidenreiher (Egretta garzetta) | Auf den trockenen Felsen ist der Regenbrachvogel dank der hervorragenden Tarneigenschaften seines Gefieders fast nicht zu erkennen | Die Wellen am Kap Tostón sind imposant und bieten herrliche Fotomotive – mit oder ohne Vogel
Wo das Wasser sich für die Dauer einiger Stunden zurückgezogen hat, bleiben Wasserlachen und Becken in den Riffen zurück. Seidenreiher nutzen die Gunst der Stunde ebenso wie Regenbrachvögel. Ich sehe Flussuferläufer und Steinwälzer. Und natürlich Mittelmeermöwen, die auf den Kanaren in ihrer atlantischen Unterart Larus michahellis atlantis zu beobachten sind, welche den Heringsmöwen irritierend ähnlich aussehen kann. Ich habe bislang noch nicht meinen Faible für Möwen entdeckt, auch wenn ich stets versuche, mich zu informieren und auch immer was dazu lernen will. Aber Möwen sind so ein Thema für sich. Ich schätze, irgendwann kommt man wohl nicht mehr drum herum, dann muss und will man sich damit auseinandersetzen.
Mittelmeermöwen am Kap Tostón | Zum Vergleich: Heringsmöwe (Larus fuscus) auf Helgoland |Mittelmeermöwen in Morro Jable
An den felsigen Küsten der Kanaren, in der Gezeitenzone genauer gesagt, lebt ein wunderbares Krustentier. Die Ostatlantische Rote Felsenkrabbe (Grapsus adscensionis) sieht mit ihrem fein gepunkteten, blauschwarz und rot nuancierenden Carapax und Beinen nicht nur beeindruckend aus, sie hat auch eine imposante Größe. Wenn Ebbe herrscht, kann man sie recht einfach zwischen den Felsen entdecken. Sie sind ziemlich scheu und ziehen sich bei der geringsten Störung in Felsspalten zurück. Ich verbrachte nahezu eine Stunde an einem Strand bei Corralejo damit, in einiger Entfernung zu einem Prachtexemplar zu warten, dass es sich aus seinem Versteck herauswagt. Ich war selber schuld, denn ich hatte sie während meiner Erkundungen überrascht. Mit feinem Klackern ihrer acht Füßchen eilte sie hinter mir über den Felsen. Ich konnte mich gerade noch umdrehen, um sie in den Spalt huschen zu sehen. Da hockten wir beide dann. Während die Flut zurückkam und die Wellen immer näher an mich heran schwappten, schwanden meine Chancen dahin. Denn im Gegensatz zu mir ist die Krabbe in den überspülten Felsriffen in ihrem Element. Am Ende musste ich mich mit zwei kleineren, jüngeren und daher nicht so leuchtend rot gefärbten Ersatzexemplaren begnügen.
Die Ostatlantische Rote Felsenkrabbe (Grapsus adscensionis), auch als Klippenkrabbe bezeichnet, lebt in Tiefen bis 200 Meter. Die tagaktiven, scheuen Krustentiere, ernähren sich omnivor, hauptsächlich von Algen und Kadavern.
Morro Jable
Für die meisten Besucher der Insel ist der Name Stella Canaris von keinerlei Bedeutung. Als die Eigentümer dieses Hotelresorts 2010 insolvent und die Anlagen 2013 endgültig geschlossen wurden, verkam der Ort zu einem lost place der besonderen Art. Das Resort zeichnete sich nämlich durch prachtvolle Grünanlagen und eine große Anzahl darin lebender Tiere aus, allem voran Vögel. Recherchiert man nur ein wenig über die Geschichte des Stella Canaris, ahnt man, dass es für viele, die es gesehen haben, eine Art Traumort gewesen sein muss. Obwohl es immer wieder Nachrichten gab, den Komplex zu sanieren, wiederzubeleben und in ein Ökoresort zu verwandeln, ist von alledem nichts zu sehen, wenn man heute auf der Strandmagistrale steht und durch die Eisengitter der verschlossenen Zugangstore schaut.
So sieht es heute im ehemaligen Hotelresort Stella Canaris aus. Von der einstigen Pracht, von der zuweilen berichtet wird, ist nichts mehr geblieben.Trotzdem recken vor den Zäunen und Toren die Passanten die Hälse, um einen Blick hinein zu werfen. Bei Birdwatchern steht es fest auf der to do Liste.
Dennoch ist das Stella Canaris ein Ort, den ich ganz bewusst aufsuche – wegen der Vögel, die noch immer dort leben. Da bin ich auch nicht die Einzige. In den vernachlässigten Palmen haben sich Mönchssittiche, Kuhreiher und Türkentauben ein eigenes Reich erschaffen, bauen Nester, brüten, füttern ihren Nachwuchs. Auf den gut bewässerten Wiesen der Magistrale schreiten Sichler umher, selbst auf dem breiten Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen trifft man sie. Die Stars in den Palmblättern sind jedoch die Mönchssittiche. Der Grund, weshalb sie sich im Resort noch immer so wohl fühlen, liegt an den zahllosen Palmen. Im Gegensatz zu anderen Papageien brüten Mönchssittiche nicht in Höhlen, sondern bauen Gemeinsschaftsnester in Palmkronen. Es sind nicht einfach nur Brutstätten, sondern komplexe „Wohnanlagen“ mit Schlafzimmer und Wohnraum. Die Gesprächigkeit der geselligen Papageien ist weithin zu hören. Es wird vermutet, dass jeder Vogel eine einzigartige Stimme hat, wodurch Mönchssittiche einander erkennen.
So ganz mag es den Sportsgeist eines Life-List-Birders beim Anblick der verwilderten Zooflüchtlinge von Morro Jable nicht entfachen. Schließlich kommen Mönchssittiche naturgemäß in Südamerika vor. Die Zahl der Sittiche in Morro Jable ist rückläufig, vermutlich aufgrund des mangelnden Nahrungsangebots nach Schließung des Hotels. Wenn man nach einheimischen Vogelarten sucht, wird man in den Salzwiesen vor der Magistrale durchaus fündig.
Über eine Distanz von gut zwei Kilometern erstrecken sich die Salzwiesen westlich und östlich des Leuchtturms von Morro Jable. Das recht große Gebiet ist für mich eine einheitliche Strauchebene, aber auch ich als Botanik-Banause muss zugeben, dass sich diese Wiesen sehr vielfältig präsentieren. Vermutlich würde Pflanzenliebhabern hier genau so das Herz aufgehen wie mir, als ich am Pottwalskelett auf die winzige Brillengrasmücke treffe. Die Winzigkeit von Vogel setzt sich keine drei Meter vor mir in einen Strauch und verschafft mir damit einmal mehr eine dieser Erstbeobachtungen, für die man praktisch nichts tun muss, außer da zu sein. Es ist ein Geschenk, diese Nähe erleben zu können.
Durch die Salzwiesen führen von der Hauptstraße aus Holzbohlenpfade an den Strand. Zwar bleibt die Vegetation so weitestgehend geschont, dennoch sammelt ein Trupp Männer den Müll auf, der sich zwischen den Sträuchern verfangen hat. Ein Wort zum Müll: Fuerteventura erlebe ich doch ziemlich aufgeräumt, auch an den Stränden, die ich besuche. Das Entsorgungssystem ist so geregelt, dass Müll anders als in Deutschland nicht jeweils in den privaten Haushalten entsorgt, sondern getrennt in öffentlich bereitgestellte Tonnen geworfen wird. Das scheint gut zu klappen, auch wenn es für mich ein bisschen gewöhnungsbedürftig war, sämtliche Müllsorten an den Sammelplatz zu bringen.
Das Atlashörnchen oder Nordafrikanische Borstenhörnchen(Atlantoxerus getulus) hat sich nahezu überall auf Fuerteventura etabliert. Ob wie hier in Salzwiesen oder in Dünenlandschaften wie bei El Cotillo, in den Ebenen von Tindaya oder zwischen Felsmauern, wie im dritten Bild bei La Oliva. Es gab keinen Ort, an dem ich den niedlichenNagetieren nicht begegnet wäre.
Der Strand El Matorral von Morro Jable lädt zu langen Spaziergängen ein. Wenn man den Blick nicht nur auf das Meer und den feinen Sand unter den Füßen heftet, dann folgt er der Architektur, die sich in den Berghang schmiegt. Die Hotelkomplexe sehen aus wie Setzkästen, ein menschengemachtes Zellenkonstrukt, baugeschichtlich in die Epoche des Brutalismus einzuordnen. Auch wenn es, vor allem aus der Nähe betrachtet, manchem Auge tatsächlich brutal vorkommen mag, so geht der Begriff auf den verwendeten Beton zurück, welcher unverputzt als Sichtbeton (auf französisch: béton brut) verwendet wurde. Die Bezeichnung des Baustils ist auch brutalistisch, nicht brutal, und immerhin hat man die Betonfassaden hier mit etwas Farbe aufgehübscht. Am Brutalismus scheiden sich die Geister. Für die einen steht er für klare, simple Formen, für schnörkellose, zweckmäßige Bauweise. Für die anderen repräsentieren die zum Teil gewaltigen Betonkolosse eigentümliche Festungen der Scheußlichkeit. Man muss sich wohl selber ein Bild davon machen. Bauwerke dieser Epoche gibt es ja noch zur Genüge.
Am 14. Dezember 2004 war im Süden der Insel der Kadaver eines über 14 Meter langen Pottwals angespült worden. Der männliche Wal war laut Nekropsie eines natürlichen Todes gestorben. Sein Skelett wurde präpariert und in Morro Jable an der Strandmagistrale am Übergang zu den Salzwiesen aufgestellt | Entlang der Avenida del Saladar schmiegen sich Hotels dicht an dicht den Hang hinauf. Trotz des vielerorts herrschenden Baubooms auf Fuerteventura (vor allem das Straßennetz um Puerto del Rosario) scheint in Morro Jable so eine Art status quo zu herrschen. Entsprechend wirken die brutalistischen Hotelbauten auch irgendwie etwas altbacken.
Embalse de Los Molinos – Puerto de Los Molinos
Auf halber Strecke zwischen Tindaya und Betancuria befindet sich südwestlich von Tefía der größte Stausee Fuerteventuras, die Embalse de Los Molinos. Nicht ohne Grund hier, denn durch den gleichnamigen Barranco fließt der einzige ganzjährig wasserführende Bachlauf der Insel bis nach Puerto de Los Molinos. Der Stausee zieht viele Vogelarten an und in der Vorbereitung auf die Reise war, etwa auf ebird.org, von 134 beobachteten Arten die Rede, viele davon das ganze Jahr über bzw. gerade in den Wintermonaten und während der Zugzeiten. Doch diese Zahl erstreckt sich über einen jahrzehntelangen Dokumentationszeitraum. Vor Ort sieht die Sache schon etwas anders aus.
Ein Trupp Sandflughühner (Pterocles orientalis) dreht seine Runden über der kargen Landschaft. Die Umgebung des Stausees ist nicht unbedingt malerisch. Ein verbogener Metallzaun grenzt das Seegelände von den umliegenden Geröllebenen ab. Alles sieht etwas „verboten“ aus, aber der Weg oberhalb des nördlichen Seeufers ist öffentlich und führt zu einer Beobachtungshütte | Bis zu fünf Meter kann der See tief werden, wenn genügend Niederschläge fallen. Im Januar 2025 standen auch die Rostgänse (Tadorna ferruginea) mehr oder weniger auf dem Trockenen | Schmutzgeier (Neophron percnopterus) kreisen über den Berghängen im Umland. Für mich eine Erstbeobachtung und schon deshalb ist der Stausee einen Besuch wert gewesen.
Die Birdinggruppe von der Ziegenfarm hatte mir Tage zuvor erzählt, dass der Stausee sehr wenig Wasser hatte und es für sie kaum etwas zu beobachten gab. Ich bin also etwas skeptisch, was die Embalse betrifft. Bei meiner Ankunft treffe ich auf zwei Deutsche, die mir erklären, dass sie seit 6 Uhr morgens auf dem Gelände sind. Nach einem kurzen Austausch über unsere jeweiligen bisherigen Beobachtungen, packen sie ihre Sachen ins Auto und fahren davon. Ich folge dem steinigen Weg entlang des Nordufers bis zu einer Beobachtungshütte. In den letzten knöcheltiefen Wasserbereichen dösen zwei Dutzend Rostgänse vor sich hin. In den felsigen Hängen um mich herum gibt es Wüstengimpel und Kanarenpieper und immer mal wieder tauchen Sandflughühner auf, die ihre eiligen Runden über der Landschaft drehen. Ihre unverwechselbaren blubbernden Rufe sind meist das erste, was man von ihnen bemerkt. Später drehen einige Schmutzgeier über dem bergigen Südufer ihre Runden. Ein Mäusebussard taucht kurz auf. Auch einen einzelnen Stelzenläufer sehe ich unten am Seeufer, aber insgesamt bleibt der Ort für mich weit hinter den Erwartungen. Es ist wohl einer dieser Orte, die man über einen längeren Zeitraum immer wieder besuchen muss, um die wahre Vielfalt zu entdecken, die sich an so einem Süßwasserparadies zweifelsohne befinden muss. Immerhin steht der Stausee von Los Molinos bei eBird auf Platz zwei der artenreichsten Beobachtungsorte Fuerteventuras.
Folgt man der Straße am Abzweig zum Stausee weiter nach Westen, erreicht man nach wenigen Minuten den kleinen Ort Puerto de Los Molinos am Ausgang des Barranco. Die Straße endet an einem Parkplatz. Bei meiner Ankunft herrscht ein ziemliches Gewimmel. Ein paar ältere Herren streuen Brot unter die fetten Moschusenten, die dort halbwild im Barranco leben. Ein paar Hühner haben sich darunter gemischt. Und glaubt man den inoffiziellen Berichten hier und da, wandern die meisten dieser Federviecher früher oder später in Kochtopf oder Bratpfanne.
Hier auf dem Parkplatz jedenfalls stören sie mächtig, denn sie weichen nur äußerst unfreiwillig den kommenden und fahrenden Autos. Selbst als die Futtershow für die Touristen beendet ist, lungern die Enten weiter im Schatten der parkenden Fahrzeuge herum. Manche von ihnen fliegen bis hinauf zum Stausee. Hätte ich sie dort (und nur dort) entdeckt, dann wären sie gewiss auf meiner Life List gelandet, zumal sie auch in den offiziellen Sichtungen auf eBird auftauchen. Aber nachdem ich sehe, dass es sich eigentlich eher um halbwilde Nutztiere zu handeln scheint, verzichte ich darauf, den dicken Watschlern einen Platz in der Liste einzuräumen.
In Puerto de Los Molinos gibt es einige Strandcafés und überhaupt ist der Ort wild und schön, besonders an diesem sonnigen Tag. In der Bucht, die von Steilklippen umsäumt ist, rollen aus Westen die Wellen heran – ein endloses Schauspiel an aufwogendem Wasser in braun, türkis und blau, schäumenden Wellenkämmen und zerstäubender Gischt, die im Sonnenlicht zuweilen regenbogenfarben schimmert. Ich kann mich kaum sattsehen an den Momenten, wenn die Welle sich auftürmt und dann bricht, über sich selbst hinweg schwappt und in weißem Schaum ausläuft. Poseidon lässt die Pferde los.
Einige Zeit später ist von der tosenden See nichts mehr zu spüren, als ich dem Wanderweg in den Barranco hinein folge. Der kleine Bach fließt verspielt durch die Schlucht, bildet kleine Stromschnellen und Stufen, flache Pools, welche sich die Moschusenten mit ein paar Stockenten teilen. In den Hängen hüpfen Dutzende Kanarenpieper umher. Ihre Warnrufe sind überall zu hören, denn über dem Bach tänzeln krächzende Kolkraben in der Luft. Doch sonst stört nichts die himmlische Ruhe dieses Ortes. Die Landschaft ist trocken, der Boden felsig und sandig und überall huschen kleine Eidechsen umher. Auf einem schwarzen Vorsprung etwas oberhalb des Baches döst ein einzelner Löffler in der Mittagssonne, den Kopf unter den Flügel gelegt. Ich halte ihn erst für einen Seidenreiher, aber dann fallen mir die schwarzen Füße auf. Als ich näher komme, schaut er sich um und sein herrlicher Schnabel mit der „Löffelspitze“ wird sichtbar. Es ist wieder so ein schöner Moment der Nähe, denn uns trennt bis auf wenige Meter nur der Bach. Der Löffler ist völlig entspannt, und ich freue mich, zum ersten Mal überhaupt einige wunderschöne Aufnahmen dieser Spezies machen zu können.
Der Wanderweg durch den Barranco ist übrigens von Februar bis in den Sommer hinein gesperrt, um das Brutgeschehen dort nicht zu stören. Zurück auf dem Parkplatz muss ich ein Dutzend Moschusenten unter meinem Auto hervor scheuchen. Sie geben den Schattenplatz nur ungern her. Aus ihren wulstigen Gesichtern schauen mich aufmerksame Augen an. Sie erwarten wohl, dass man einen Tribut zahlt.
Cofete
Oberhalb des Hafens von Morro Jable gelangt man an einen Abzweig zu einer holprigen, kurvenreichen Küstenstraße, die einen bis zur südlichsten Spitze der Insel bringt. Einige Kilometer später biege ich jedoch rechts in die Berge ab. Die Straße windet sich den steilen Hang bis zum Pass hinauf, wo es zwar einen Mirador, aber nur wenige Parkplätze gibt. Ich will unbedingt einen Blick auf die atemberaubende Küste werfen, auf den riesigen Steilhang, der sich halbmondförmig die gesamte Nordküste der Halbinsel Jandía entlang zieht und den endlos langen Strand von Cofete. Es ist ein Bilderbuchausblick. Wenn nur nicht der scharfe Wind wäre, dass man sich kaum auf den Beinen halten kann!
Vom Pass aus geht es abwärts, anfangs ebenso kurvenreich und mit einer Begegnung, auf die ich gerne verzichtet hätte, weil sie kurz meinen Puls in unangenehme Höhe treibt. Hinter einer Kurve stockt der Verkehr, denn ein wuchtiger Geländebus, welcher von Morro Jable aus mehrmals am Tag nach Cofete und zurück fährt, schiebt sich Meter für Meter die Straße hinauf. Die kleineren Autos weichen in Buchten am Straßenrand aus. Manchmal müssen sie dafür einige Meter zurücksetzen. Rechts der Felsenhang, links der Abgrund und die kurvige Straße nicht gerade breit. Der Busfahrer ist stoisch wie ein alter Esel. Ich male mir kurz aus, welche Verwünschungen und Flüche er wohl bereits über sich ergehen lassen hat. Der Bus ist eine Art umgebauter Unimog, so genau schau ich gar nicht hin. In der Hochsaison ist das hier mit Sicherheit um Längen interessanter. So aber rangelt sich der Bus an dem kleinen Stau vorbei und nach wenigen Minuten rolle ich weiter den Hang hinunter.
Obwohl die Casa Winter am Berghang sofort ins Auge fällt, verliert sie sich doch als winziger Punkt in der Größe der sie umgebenden Landschaft. Gebaut wurde sie vom Deutschen Gustav Winter im Jahr 1936; er selbst behauptete später aber das Haus 1958 errichtet zu haben. Seine Beweggründe für die unzugängliche Lage befeuerten einige Legenden, etwa die von einem U-Boothafen vor der Küste während des 2. Weltkriegs. Was auch immer in Cofete los war, eine gewisse Aura umgibt diesen Ort definitiv. | Derselbe Ort, derselbe Tag, dieselbe Zeit – und doch viele Facetteneiner beeindruckenden Landschaft.
Cofete ist nicht mehr als eine Ansammlung von Häuschen. Es ist weder schön noch interessant. An diesem Nachmittag wirkt alles verlassen und ständig schwirrt mir die Frage durch den Kopf, warum um alles in der Welt überhaupt irgendwer hier lebt. Es gibt sogar einen Friedhof, dort, wo die Straße dann auf einem Parkplatz endet. In jedem halbwegs brauchbaren Reiseführer hätte ich vorab bestimmt etwas dazu erfahren. Aber meine Recherchen galten den Naturräumen der Insel und zuweilen ist mir dann auch klar, dass ich dabei das eine oder andere Interessante verpasse. Hier in Cofete trifft das wohl eher nicht zu.
Etwas weiter von der Siedlung entfernt, ein Stück den Hang hinauf, steht ein einzelnes, großes Anwesen. Ein strahlend weißes Gebäude allein im schwarzen Berg. Die Frage, was einen Menschen veranlasst, hier ein solches Haus zu bauen, haben sich vor mir schon viele gestellt und es gibt auch einige Erklärungsansätze, welche aber vermutlich nur noch mehr Anlass zu Spekulationen geben. Es ist ein einsamer, unzugänglicher und irgendwie düsterer Ort. Über dem Strand hängt ein bleigrauer Wolkenteppich und lässt alles fahl und noch trostloser wirken. Hier und da wirft ein Sonnenstrahl Licht auf den Strand und sorgt für einen Tupfen Gelb. Allzu lange möchte ich mich hier nicht aufhalten, denn eine seltsame Melancholie packt mich. Der Strand ist nicht schön, wenn man so drauf steht. Der Strand ist weder romantisch noch malerisch noch birgt er etwas, das man entdecken möchte. Nicht mal Möwen. Von oben am Mirador wirkte er toll, doch hier unten ist alles einfach so groß und endlos, dass ich mir verloren vorkomme. Ich bezweifle sogar, dass ich mich besser gefühlt hätte, wäre jemand bei mir gewesen.
Ich laufe den Strand Richtung Nordosten hinauf. Ein Pärchen mit Säugling und Kinderwagen trotzt in einer Strandmuschel dem bissigen Wind. Ein anderes probiert sich mit Fotos von ihr im flatternden Sommerkleid und wirbelnden Haaren. Die meisten aber ziehen die Jacke fester über und spüren für ein, zwei Kilometer die Kraft der Natur, bevor sie wieder umkehren. Tatsächlich hellt sich meine Stimmung erst in dem Augenblick etwas auf, als vor mir ein Trupp Seeregenpfeifer über den Strand saust. Zum einen, weil Regenpfeifer einem immer ein Lächeln aufs Gesicht zaubern können, aber vor allem weil sie diesen Ort mit einem Schlag lebendig machen. Das macht mich nachdenklich, denn es sind nicht die Menschen hier, die mit ihren Autos und Geländebussen herunterkutschiert kommen und auch nicht die Häuschen oder die Casa Winter, der Friedhof schon gleich gar nicht, aber all das Menschengemachte vermag dem Ort keine Seele einzuhauchen, so wie es diese winzigen Vögel tun können.
Seeregenpfeifer (Charadrius alexandrinus) kommen ganzjährig auf Fuerteventura vor.
Parque Natural de Jandía und Costa Calma
Der Mond steht noch hoch am Himmel, als ich zu einem weiteren Tagestrip in den Süden Fuerteventuras aufbreche. Ich habe meine Liste gesichtet und es fehlt nicht mehr viel zu meinem Glück. Aber der Rennvogel bereitet mir Kopfzerbrechen. So einfach, wie die anderen Kandidaten auf besagter Liste, macht er es mir nicht. Ich beschließe, den Vormittag im Parque Natural de Jandía zu verbringen, wohlwissend, dass ich mal wieder die Stecknadel im Heuhaufen suche.
Ich fahre diesmal über Antigua durch die Berge und erlebe einen wunderbaren Sonnenaufgang südlich von Betancuria. Doch irgendwas liegt in der Luft, auch wenn ich es noch nicht so ganz benennen kann. Der Himmel im Osten ist trüb und rosig, die Wolken sehen irgendwie unscharf aus und gar nicht so schön blaugrau und frisch, wie an den Tagen zuvor. Aber ich mache mir nicht allzu viele Gedanken darüber, denn meine Frontscheibe hat seit Tagen kein Wasser mehr gesehen und ist ziemlich staubig und verschmiert. Das Wischwasser ist alle. Ich glaube, es war nie voll. Vielleicht ist also alles nur eine optische Täuschung.
Die Wüste von Jandía beginnt bei Costa Calma und erstreckt sich bis nach La Pared im Norden, wo sie wieder ans Meer grenzt. Bei Jandía im Süden geht sie dann in die Berge über, die bis zur Südspitze der Insel den zweiten großen Naturraum des Naturparks bilden. Mit dem Pico de la Zarza (807m) befindet sich hier auch die höchste Erhebung Fuerteventuras. Wer sich die Berge auf dem Satellitenbild anschaut, dem fällt auf, dass das Bergmassiv die Überbleibsel eines riesigen Kraters sind, dessen nördlicher Teil irgendwann abgerutscht und im Meer verschwunden war. Der Rest davon ist der Strand von Cofete umschlossen von utopisch alten Bergen und fast möchte ich John Denver zitieren: Life is old there, older than the trees, younger than the mountains, growing like a breeze…
Aber Bäume gibt’s hier nicht. Die kleine Ecke der Wüste von Jandía, die ich mir anschaue, erscheint mir noch unwirtlicher als die Ebenen von Tindaya. Hier will nicht einmal mehr der Strauch-Dornlattich so recht gedeihen. Einen Kanarenpieper sehe ich, zwei Raubwürger, einen Kolkraben und eine eilige Taube. Einmal ist mir als hörte ich Sandflughühner, doch sie bleiben unentdeckt. Die wenigen Informationen, die ich im Vorfeld überhaupt zu diesem Ort gefunden habe, waren im Grunde nur eine grobe Orientierung, sich entlang der Wege durch das Gelände zu bewegen und die Augen offen zu halten. Ich mache das etwa eine Stunde lang, aber irgendwie fehlt’s mir an diesem Tage an Geduld. Während ich in der leeren Wüste warte, könnte ich andernorts vielleicht etwas verpassen. Immerhin ist der Tag noch recht jung. Ich beschließe, nach Costa Calma zu fahren und dort mein Glück mit dem Rotsteißbülbül zu versuchen.
El Palmeral, so der offizielle Name des Stadtparks von Costa Calma, ist eine Grünzone wie sie auf Fuerteventura nicht noch einmal vorkommt. Er bietet nicht nur Vögeln einen Lebensraum, sondern sorgt ganzjährig für ein angenehmes Klima. Zur Bewässerung dieser Oase werden die geklärten Abwässer der umliegenden Hotels verwendet | Obwohl derWeidensperling (Passer hispaniolensis) weltweit nicht häufig vorkommt, so ist er doch die einzige Art Spatz, die es auf Fuerteventura gibt. Davon dann auch reichlich. | Der Rotsteißbülbül (Pycnonotus cafer) gilt neben dem Halsbandsittich und dem Mönchssittich als die dritte problematische invasive Vogelart auf Fuerteventura. Während der Halsbandsittich inzwischen ausgerottet ist und die Zahl der frei lebenden Mönchssittiche sinkt, bleibt der Rotsteißbülbül ein Problem. Die aus Indien als Ziervogel eingeschleppte Art gilt als extrem anpassungsfähig. Auf Fuerteventura ist vor allem das Fressverhalten der Bülbüls problematisch, da sie den heimischen Arten Nahrung entziehen. | Im Park. Zwischen hohen Palmen und Kasuarinenbäumen finden sich gelegentlich auch imposante Exemplare von Opuntien und Wolfsmilchgewächsen.
Der Stadtpark von Costa Calma entpuppt sich als komplett anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Er zieht sich über zwei Kilometer zwischen den beiden parallel verlaufenden Hauptstraßen der Stadt entlang und gleicht eher einer Mischung aus Wald und Buschland. Aus den Dickichten klingt das Tschirren der Weidensperlinge, das mitunter in ein lautes Spektakel ausartet. Dazwischen hört man das hübsche Singen der Mönchsgrasmücken, die hier überwintern, und auch das „tiwitt-tiwitt“ der Stieglitze. Der Park ist ein außergewöhnlich üppiger Lebensraum in der Kargheit der Halbinsel Jandía und schon darum ein Magnet für Vögel. Und auch wenn er auf Fuerteventura nicht sehr beliebt ist, den Rotsteißbülbül will ich sehen… wo er doch schon mal hier ist.
Sotavento
Offiziell die Playa de Sotavento de Jandía ist dieser Lagunenstrand für mich einer der schönsten und interessantesten Orte während meines Aufenthalts gewesen. Ich komme hier am frühen Nachmittag ziemlich unbedarft an. Ich habe etwas von einer Lagune gelesen und von vielen Watvögeln, aber nach den ersten hundert Metern stelle ich fest, dass gar kein Wasser da ist. Stattdessen erstreckt sich eine weite Sandfläche, mal trocken mal klebrig feucht, bis zu einer Art Sandbank oder Düne am Meer, und in dem, was ich für den Rest des ausgetrockneten Strandsees halte, toben sich die Kitesurfer aus. Von Watvögeln ist erst einmal keine Spur weit und breit. Einen Birder sehe ich, mit seiner Kamera und der typischen Outdoor-Kluft eine ziemlich auffällige Erscheinung zwischen Bikinis und Neoprenanzügen. Mir gefällt der Strand aber sehr gut und ich beschließe nach fast einer Woche Vogelbeobachtung, hier eine Wohlfühlpause einzulegen. Ich hole mein Tagebuch raus und hocke mich auf den warmen Sand, da, wo hinter mir die steilen Felswände etwas ins Landesinnere zurückweichen und ein Teppich aus kniehohen Sträuchern den Lagunenboden besiedelt hat. Schon nach kurzer Zeit bemerke ich Vogelstimmen aus der Vegetation. Brillengrasmücken und Raubwürger halten auf den höchsten Zweigspitzen Ausschau nach Insekten. Kleine Trupps von Regenbrachvögel gaukeln über die Sträucher und tauchen dazwischen ab. Ein einzelner Löffler leuchtet schneeweiß am Übergang von der Vegetation zum Wasserrand. Nach einer Weile packt mich die Neugier. Wer weiß, was da noch alles hockt?
Die Lagune von Sotavento erstreckt sich über drei Kilometer entlang eines endlos erscheinenden Sandstrandes zwischen Jandía und Costa Calma. Wer Zeit und Lust hat, kann die ganze Strecke ablaufen. Sonnenschutz ist, wie überall auf Fuerteventura, zwingend notwendig, denn Schatten gibt es nicht. Weiter draußen, Richtung Sandbank, welche den Ozean von der Lagune trennt, wird das Wasser etwas tiefer. Hier fallen mir auch die ersten Priele auf, die den Lagunenboden durchziehen und hier sehe ich nun auch, wie das Wasser langsam und stetig über den Sandboden kriecht. Wie im Wattenmeer, denke ich, und tatsächlich fällt bei mir erst jetzt der Groschen: eine Gezeitenlagune.
Regenbrachvögel (Numenius phaeopus) halten sich außerhalb der Brutzeit an Küsten auf. Sie bevorzugen felsige Küsten, sind in den Überwinterungsgebieten aber auch an offenen Küsten wie hier im Süden Fuerteventuras anzutreffen. Die Brutgebiete dieses Langstreckenziehers befinden sich überwiegend auf Island und im Norden Skandinaviens und vereinzelt in Russlands. Die Bestandsprognose des Regenbrachvogel sieht aufgrund der globalen Erwärmung eher ernüchternd aus, da von einem herben Verlust an geeignetem Lebensraum ausgegangen wird.
Diese Erkenntnis ist für mich so beglückend und plötzlich wird dieser Ort geradezu magisch. Welch eine Dynamik, Wasser kommt und geht den ganzen Tag, und mit ihm wechseln die Akteure die Bühne! Ich sehe vor mir ein paar Regenbrachvögel, keine zwanzig Meter entfernt. Sie sind überhaupt nicht scheu, wahrscheinlich weil hier den ganzen Tag Leute durch das flache Wasser spazieren. Ich konnte mich noch nie so herrlich sattsehen an den Regenbrachvögeln und ich stelle hier fest, dass sie mit zu meinen Lieblingsvögeln zählen, seit ich sie ein Jahr zuvor das erste Mal am Golf von Morbihan in der Bretagne beobachtet hab.
Mit dem einlaufenden Wasser kommen auch die Fische zurück und das ruft die Löffler auf den Plan. Noch nie zuvor habe ich die hübschen weißen Vögel bei der Nahrungssuche beobachten können. Was sie jetzt im Flachwasser darbieten ist eine faszinierende Mischung aus Drehungen, Sprüngen und kurzen Flügen. Mit säbelnden Bewegungen durchseihen sie das Wasser mit ihren Schnäbeln. Das ganze erinnert mehr an einen Tanz als an eine Jagd. Die Dynamik dieser Szene verzaubert mich für den Rest des Tages. Sie trägt mich während der Rückfahrt durch die Calima, jener anstrengenden Sandsturmwetterlage, die Saharastaub zu den Kanaren weht und die Luft so stickig macht, dass man nicht einmal mehr die Berge erkennen kann. Der Himmel ist von einem rosa-gelblichen Schleier überzogen, wie es schon am Morgen bei Sonnenaufgang angedeutet war. Und nun verstehe ich auch, weshalb ich zwei Tage nach meiner Ankunft auf Fuerteventura Erkältungssymptome hatte, Kratzen im Hals und eine laufende Nase. Die Calima scheint an diesem Tag ihren unangenehmen Höhepunkt zu erreichen. Schon der Anblick der „dicken Luft“ lässt mir den Atem stocken. Am Meer war davon nichts zu bemerken und am nächsten Tag hat sich die Lage zum Glück wieder beruhigt.
Barranco de las Peñitas (Vega de Río Palmas)
Meine Reise nähert sich ihrem Ende und nachdem ich viel Zeit an Stränden, in Wüsten und Geröllebenen verbracht habe, möchte ich gerne nochmal in die Berge, in einen Barranco. Ich möchte die letzten Lücken auf der Liste füllen, besonders die Ultramarinmeise – auch als Kanarenmeise bezeichnet – fehlt mir noch. In den Bergen um Betancuria soll es so gut wie sicher sein, sie zu beobachten. Eine schöne und kurzweilige Tour bietet ein Wanderweg, welcher zwischen dem Bergdorf Vega de Río Palmas hinunter nach Mezquez führt. Der Weg folgt dem Flussbett bis zu einem verlandeten Staubecken, hinter dem sich der Barranco ins Tal hinunter öffnet und von dort an steil bergab führt. Wie alle Wanderwege, die ich auf Fuerteventura gesehen und begangen habe, ist auch dieser in allerbestem Zustand.
Kolkraben kommen auf Fuerteventura häufig vorund zwar in der Unterart Corvus corax tingitanus, dem Nordafrikanischen Kolkraben| Die auf der Insel heimische Kanarenmeise oder Ultramarinmeise (Cyanistes teneriffa degener) ist eine der sieben Unterarten dieser Meisenart. Ihr Verbreitungsgebiet beschränkt sich auf die Kanaren und das nördliche Marokko, Algerien und Tunesien. Trotz ihres typisch „kecken“ Meisenverhaltens fand ich es wirklich schwierig, sie ins rechte Bild gerückt zu bekommen.
Während der letzten beiden Tage auf der Insel ist der Himmel bewölkt, was mich aber nicht weiter stört. Um zu den Bergdörfern Betancuria und Vega de Río Palmas zu gelangen, folge ich von Tefía aus einer kurvenreichen, steilen Straße mit atemberaubend schönen Aussichten über das Tiefland nördlich des Bergmassivs.
Betancuria erwartet seine Gäste mit einem großen Hinweisschild, dass es zu den hundert hübschesten Dörfern Spaniens zählt. Die einstige Hauptstadt Fuerteventuras ist in der Tat herausgeputzt, doch die Stille des Morgens vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, dass auch hier tagsüber alle Parkplätze und Straßenränder voll sind und die Touristen in Bussen hergebracht werden. Was dann wohl noch vom Charme des Bergdorfes übrig ist? Etwas beschaulicher geht es in Vega de Río Palmas zu, dem anderen Dorf, welches sich in dem Talkessel des Bergmassivs befindet. Hier lockt vor allem der Wanderweg durch den Barranco und ein kleines Kulturzentrum die Touristen an.
Der Naturlehrpfad entlang des Río Palmas vereint in seiner landschaftlichen Schönheit Botanik, Ornithologie und Geologie und ist nicht umsonst eine der beliebtesten Wanderstrecken. Ich entdecke Samtkopfgrasmücken und Rotkehlchen in einem kleinen Schilfgürtel nahe des Dorfes, später Wüstengimpel in den Geröllhängen, deren schöne Rufe durch das ganze Tal hallen, Brillengrasmücken, Kanarenmeisen und kreisende Mäusebussarde hoch oben über dem Stausee. Dieser ist mit Sträuchern zugewachsen und bietet Kleinvögeln Lebensraum. Hinter der hohen Staumauer fällt das bis dahin ebene Gelände steil in einer Schlucht hinab ins Tiefland. Der Ausblick ist grandios und für mich unerwartet. Der Weg schmiegt sich nun an der Felswand entlang hinunter, vorbei an Felsenpools und beeindruckenden Gesteinsformationen. Von irgendwoher hallt das Meckern von verwilderten Ziegen in den Felsen wider. Tauben fliegen rasant vom Staudamm durch die Schlucht talwärts, so schnell, dass ich sie gar nicht bestimmen kann. Und auch hier erklingen die Rufe der Wüstengimpel.
Im Laufe des Vormittags wird es voll auf dem Wanderpfad. Also kehre ich gegen Mittag um, und beschließe auf dem Rückweg noch den kleinen Umweg über Villaverde zu nehmen.
Ziegenfarm
Eigentlich fahre ich die staubige Piste nur aus Neugier und weil ich noch etwas Zeit habe, bevor die Koffer gepackt werden müssen. Sie führt mich über steiniges Land vorbei an Vulkankegeln zu der Ziegenfarm, wo ich am ersten Tag die deutschen Vogelbeobachter getroffen hatte und nun einen letzten Halt mache. Staubfahnen in einiger Entfernung verraten eine Buggy-Safari, die sich ihren Weg durch die Ebene bahnt. Ich parke gleich an dem Abzweig, der zu den wenigen, maroden Gebäuden führt, aus denen die kleine Farm besteht. Links neben der Zufahrt sind zwei Hügel aus Steinen und alten Palmwedeln aufgetürmt. Heute liegt auch etwas frisches Grün davor. Der Boden ist übersät mit verholzten Palmblattresten, Geröll und Ziegenkötteln – ein Paradies für Insekten. Das wiederum zieht Kanarenschmätzer, Raubwürger, Stummellerchen, Kanarenpieper, Türkentauben, Wiedehopfe und Sandflughühner an und macht diesen Ort so interessant.
Raubwürger (Lanius excubitor koenigi) in der kanarischen Unterart. Manchmal wird gesagt, es handle sich um eine „iberische“ Unterart, was zur Verwechslung mit dem Iberienraubwürger (Lanius meridionalis) führen kann. Dieser ist als eigene Art bewertet und weist trotz äußerer Ähnlichkeit genetische Unterschiede zu den Unterarten des Raubwürgers auf. | Der Kanarenschmätzer (Saxicola dacotiae) – hier das Männchen – kommt nur auf Fuerteventura vor. Ich habe sie vorwiegend im Norden der Insel beobachtet, in den Geröllfeldern und Gärten rings um Villaverde, La Oliva und Caldereta. Caldereta ist übrigens auch der spanische Name dieser Vögel | Stummellerchen (Calandrella rufescens) habe ich nur bei der Ziegenfarm gesehen. Trotz der schlechten Qualität der beiden Aufnahmen ist die kräftige Strichelung der Brustpartie und die Handschwingenprojektion zu erkennen.
Ein müder Hund schiebt in diesem kleinen Reich Wache. Die stille Luft ist erfüllt vom Singen der Stummellerchen und dem leisen Sausen des Windes zwischen den Vulkanhängen. Ich lasse die rechte Fensterscheibe herunter, um besser mit dem Fernglas zur Farm blicken zu können, als ich direkt neben dem Wagen auf dem Boden eine Handvoll hell gefiederte Vögel entdecke. Mein erster Gedanke ist, dass es sich um Türkentauben handelt, aber da flattern sie auch schon auf und ihre schwarzen Bäuche verraten mir zweifelsfrei: es sind Sandflughühner. Ich bin überrascht, so nah war ich dran! Dann ärgere ich mich, dass das Öffnen des Fensters sie verjagt hat. Und dann erinnere ich mich an meine Beobachtungen vom Stausee bei Los Molinos. Die Hühner fliegen in weitem Bogen über das Terrain und kehren wieder an ihren Ausgangsort zurück. Manchmal drehen sie ein, zwei Runden ohne erkennbares Schema, aber sie landen wieder dort, wo sie herkamen. Und darauf hoffe ich nun auch, dass sie zurück kommen.
Die äußerst wachsamen Sandflughühner (Pterocles orientalis) sind Meister der Tarnung und es braucht schon ein gutes Auge, um sie in der kargen Landschaft zu entdecken.Viel auffälliger dagegen ist ihr unverkennbarer Ruf, ein kehliges Blubbern, das oft zu hören ist, wenn die Hühner in kleinen Gruppen über dem Gelände fliegen.Die Männchen haben einen grauen Kopf und Rumpf, mit einer rostbraun gefärbten Kehle und einem eher getupften Rückengefieder, während die Weibchen eine gleichmäßig schwarze Strichelung auf ihrem sonst sandfarbenen Gefieder aufweisen. Beiden gleich ist der unverwechselbare tiefschwarze Bauch.
Ich warte gar nicht lange. Kurz darauf kommt jemand mit einem Pick-up auf das Gelände und bringt erneut Bewegung in die Nachmittagsstille. Ich höre die Hühner mit ihren rollenden, weichen Rufen anfliegen und entdecke sie rechtzeitig, bevor sie ganz in meiner Nähe landen. Ich kann mich ihnen entlang der Straße bis auf etwa zwanzig Meter nähern und so auch sehr schön den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen beobachten. Ihre Tarnung im Gelände ist hervorragend und es ist ein großes Glück, dass sie so ruffreudig sind. Ich bleibe, bis die Hühner wieder auffliegen und im staubigen Nachmittagshimmel verschwinden.
Die Zeit ist um. Auf dem Weg zurück ins Apartment denke ich an die Orte, die ich noch nicht besuchen konnte. Den Hafen von Corralejo, wo ich schon im Vorbeifahren zahlreiche Reiher entdeckte, die es in die von der Ebbe freigelegten schwarzen Felsriffe zieht. Die Barrancos südlich von Caleta de Fuste und die Berglandschaften Cuchillos de Vígan mit dem Leuchtturm an der Küste, jenem Ort, welcher den am nächsten zu Afrika gelegenen Punkt der Insel, ja der Kanaren überhaupt markiert. Die Vulkane im Norden bei Villaverde und La Oliva, die man umrunden und erklimmen kann. Die Sandwüste bei Corralejo, die ich nur ein wenig entlang der Küste erkundet habe, aber die sich mit herrlichen Dünen weiter ins Landesinnere erstreckt. Ein Abstecher auf die Isla de Lobos zwischen Fuerteventura und Lanzarote, oder eine Küstenwanderung östlich vom Kap Tostón. Es gibt in der Tat viele Gründe, noch einmal wiederzukommen, die wilde, schöne Insel zu einer anderen Jahreszeit zu erleben, und dann klappt es vielleicht auch mit dem Rennvogel.
Vielen Dank fürs Lesen!
Infoquellen zum Birding auf Fuerteventura
eBird | Karte mit den Hotspots auf Fuerteventura | Reiseberichte birdingplaces.eu | Freier Onlineführer für Vogelbeobachtung | Fuerteventura Crossbill Nature Guides | Fuerteventura and Lanzarote | Buch, Englisch