Birding am Mont Saint-Michel

Er ist Pilgerort auf dem Jakobsweg, Touristenmagnet, begehrtes und herausforderndes Fotomotiv oder Sehnsuchtsort für Romantiker und Historiker gleichermaßen. Aber rings um den berühmten Berg in der Gezeitenzone des Golfes von Saint-Malo wartet auf den geduldigen Beobachter auch eine interessante Tierwelt, die sogar zu überraschen vermag. Es lohnt sich, die Besucherpfade zu verlassen und stattdessen ein wenig durch die umliegenden Polder und Wiesen zu streifen.

Ein Bilderzyklus.


– Episode Eins –

Parkplatz

Das Park-Areal am Mont Saint-Michel ist naturgemäß riesig. Eine Schotterfläche so groß wie 12 Fußballfelder – und das ist nur die Parkfläche für die Tagesgäste – bietet scheinbar nicht viel Raum für Vögel. Doch zwischen den bis zu 4000 Autos, Bussen und Wohnmobilen tummeln sich Elstern, Krähen und Sperlinge auf der Suche nach den schmackhaften Überbleibseln hungriger Touristen.


Ich habe Glück und erhasche einen Parkplatz ganz im Süden an einer dichten, hohen Wildhecke. Die meisten würden das zwar eher als Pech bezeichnen, denn von hier aus ist die Distanz zum Mont Saint-Michel am größten – über drei Kilometer.
Ich höre einen Seidensänger im Dickicht, inbrünstig, metallisch-klappernd. Zu sehen bekomme ich ihn leider nicht, eine Enttäuschung, an die ich mich hier in Frankreich schon ein wenig gewöhnen musste. Dafür nutzen das Wildgestrüpp noch einige weniger heimliche Vögel wie Heckenbraunellen, Amseln und Ringeltauben, um darin zu brüten.


Diese barock ausladende Körperform,
dieses porzellanglatte Gefieder,
dessen Farbe mit dem Wort „taubenblau“
eigentlich nur unzureichend beschrieben ist:
Es changiert, je nach Beleuchtung,
irgendwo zwischen grau, grün, blau und lila.

Mit diesen Worten verleiht Johanna Romberg in ihrem wunderbaren Buch Federnlesen (S. 53) ihrer Begeisterung für die Ringeltaube Ausdruck. Darin widmet sie der größten heimischen Taubenart sogar ein ganzes Kapitel, weiß aber doch über noch viel mehr Vögel zu erzählen.



Östlich des Park-Areals befinden sich über eine Länge von gut 600 Metern mehrere kleine, mit Schilf bewachsene Senken – Lebensraum für einige Schilfrohrsänger. Die Männchen schaukeln auf den Stängeln und stecken ihr Brutrevier durch ein charakteristisches Potpourri aus knarzenden, pfeifenden, trällernden, zwitschernden und klappernden Elementen ab. Mit ein wenig Geduld entdeckt man sie dadurch.

Zwischen dem Parkplatz und dem Beginn des Fahrdamms zum Mont Saint-Michel liegt ein Park neben dem Besucherzentrum. In dem großen Areal konzentrieren sich ein Campingplatz und mehrere Hotels und Herbergen, Restaurants und Imbissbuden. Gegenüber, auf der anderen Seite der Promenade, befindet sich ein kleiner Acker, auf dem sich Rabenkrähen und Mantelmöwen geschäftig geben.


Macht ihrem Namen in jedem noch so kleinen Gestrüpp alle Ehre: die Heckenbraunelle. Der hübsche Vogel mit dem „Perlenband“ auf dem Flügel ist nicht sehr scheu. Obwohl oft von ihrem monotonen, etwas rauchigem Ruf die Rede ist, hat die Heckenbraunelle zur Reviermarkierung ein hübsches Lied zu singen. So genau scheinen es die Vögel aber nicht zu nehmen, denn Reviere von Männchen und Weibchen überschneiden sich häufig und dann wird jeder in das Brutgeschäft eingebunden, der vor Ort ist. Polyamorie und Patchwork bei den Heckenbraunellen.


– Episode Zwei –

Schafweiden

Der über einen Kilometer langen Promenade von den Parkplätzen folgt man im Strom der Besucher Richtung Mont Saint-Michel. Bevor es auf den Fahrdamm entlang der Wiesen und Wattfläche geht, zweigt nach Osten ein Feldweg ab. Man passiert ein Weidetor und folgt nun dem Weg am Südrand der Schafweiden – fort vom Mont Saint-Michel.
Es führt aber auch ein schmaler Wanderpfad direkt hinter dem Weidezaun entlang, von dem aus sich ein verschilfter Wassergraben und die dahinterliegenden Felder gut beobachten lassen. Dort tummeln sich Bluthänflinge, Teichrohrsänger und Goldammern.


Bereits der Weidezaun ist ein beliebter Sitzposten für so typische Vertreter wie den Wiesenpieper. Vereinzelt stehen Büsche entlang des Zauns, doch Schatten ist hier im Weideland äußerst rar und Kopfbedeckung unbedingt ratsam. Für die Schafe wurden extra Unterstände angelegt, bunkerartige Senken mit begrünten Dächern, die sich wie Hügelchen in die kärgliche Wiesenlandschaft einfügen und die den Tieren vor den Unbilden des Wetters Schutz bieten sollen.
Der typische Gesang von Feldlerchen liegt in der Luft.


Über der ausgedehnte Wiesenfläche patroullieren Turmfalken. Nach Tagen ohne eine Sichtung an der bretonischen Küste sind die Turmfalken hier in der Normandie die ersten Greifvögel überhaupt, die ich entdecke.


Unter den „Zaungästen“ sind auch Steinschmätzer, die die Wiesen als Jagdgründe nutzen. Als Insektenfresser haben sie hier gute Karten. Noch ist das Brutjahr jung, Mitte April, und vielleicht sind auch einige von ihnen lediglich auf der Durchreise in die nördlichen Brutgebiete, welche sich bis nach Nordamerika erstrecken. Andere werden jedoch bleiben und irgendwo im kurzgefressen Rasen, den Geröllinseln in der Wiese oder im Felssockel des Mont Saint-Michel eine gemütliche Nische finden, in der sie ihr Napfnest bauen.


Inzwischen ist die Mittagszeit herangekommen und unter der hohen Sonne flirrt die Luft. Die Farben werden fahl und mit zugekniffenen Augen tastet der Blick durch die Weite der Landschaft. Ein Mäusebussard hat den Wiedezaun als Sitzwarte auserkoren. Auch sein Anblick versöhnt mich mit der an Greifvögeln scheinbar so leeren Gegend hier in Frankreichs Norden.
Überhaupt, die Wiesen sind ein herrlicher Ort und es gibt erstaunlich viel zu beobachten.


Auf kleinen Trampelpfaden schreite ich zwischen den Schafen Richtung Mont Saint-Michel. Während der Ebbe dörrt die Wiese unter der Mittagssonne aus. Ein Rest Feuchtigkeit liegt in den kleinen Rinnen, über die das Wasser abfließt, doch die flachen Teiche sind leer. Die Schafe beäugen die Spaziergänger scheinbar gleichmütig, aber da Lämmerzeit ist, sind sie achtsam.
Ein hübscher Hase taucht zwischen den Schafen auf. Ja, es ist Osterzeit. Nur Eier finden sich keine, zum Glück, denn ich hätte nur ungern eine Feldlerche bei der Brut gestört. Es ist nur gut, auf den Pfaden zu bleiben.


Denn der am Boden lebende Vogel benötigt offenes, übersichtliches Gelände mit kurzrasigen oder schütter bewachsenen Böden und kleinen Büschen oder Felsbrocken, die als Singwarten, Ausguck und Ansitz für die Insektenjagd dienen. Zudem müssen Felsschutt, Lesesteinhaufen, Trockenmauern, Holzstapel oder ähnliche Strukturen vorhanden sein, in deren Höhlungen der Steinschmätzer sein Nest anlegt. Notfalls bezieht er auch verlassene Kaninchenbaue. Mit diesen Tieren verbindet den Vogel noch eine andere indirekte Beziehung: Die Kaninchen halten die Vegetation kurz und schaffen damit geeignete Lebensbedingungen für den Steinschmätzer.

Was hoppelnde Nagetiere und Steinschmätzer aneinander haben, weiß Uwe Westphal
in seinem Buch Schräge Vögel (S. 78) zu berichten. Neben den komplexen Ansprüchen des Steinschmätzers an seinen Lebensraum, erfährt der Leser darin auch allerlei Interessantes von über 60 weiteren heimischen Vogelarten.


Zurück auf dem Schotterweg am Weidezaun gelingt mir die Beobachtung einer Gelbkopfschafstelze (Foto 1). Diese Unterart der Wiesenschafstelze (Foto 2) ist typisch für die Ärmelkanalregion und die Britischen Inseln, weshalb sie auch
„Englische Schafstelze“ genannt wird.


– Episode Drei –

Der Felsen

Während einer ausgedehnten Rast zurück am Auto unternehme ich einen weiteren Versuch, den Seidensänger zu erspähen.
Danach steht es 2:0 für den Vogel.
Es ist es bereits gegen 16 Uhr und die Landschaft gewinnt wieder an Farbigkeit, als ich den Weg zum Mont Saint-Michel hinüber antrete. Rund 1,8 km erstrecken sich der Fahrdamm und die Brücke zwischen Wiesen und Watt und der Besucherstrom fließt noch immer ununterbrochen in beide Richtungen. Der Pommesverkäufer im Dorf winkt unbekümmert ab. Es sei ja noch nicht wirklich viel los. Man müsse einmal in der Hochsaison herkommen. – Na, darauf kann ich wohl verzichten.


Aus nächster Nähe scheint der Mont Saint-Michel alles Majestätische und Geheimnisvolle zu verlieren. Ernüchterung trifft es wohl am besten. Zwar ragt die Abtei noch immer hoch und beeindruckend in den Himmel hinein, doch auf dem betonierten Vorplatz parken Autos, Bauzäune hier und dort, eine Drohne zirkelt um den Turm der Abtei, die eleganten Shuttlebusse surren im Halb-Stunden-Takt über den Damm, sogar das Militär kommt mit zwei Jeeps und bis an die Zähne bewaffneten Soldaten herüber gedüst und Kampfjets donnern an diesem Tag mehrmals über die Bucht – kurzum: die Stimmung ist weder romantisch, noch mystisch, noch mittelalterlich oder sonst irgendwas.
Der Felsen ist aber nicht nur von Menschen bevölkert. Vor allem Möwen, Mantelmöwen und auch Silbermöwen, gaukeln über dem Vorplatz, immer darauf bedacht, keinen Leckerbissen zu verpassen, der aus Eiswaffeln, Pommes- und Chipstüten fällt.


Doch die große Überraschung des Tages kommt in Form einiger Dohlen durch den Schlick gestakst. Zwar entspricht der burgartige Mont Saint-Michel allem, was sich eine Dohle an Vorlieben für ein Habitat nur wünschen kann. Dennoch habe ich mit den schönen Blauaugen hier nicht gerechnet. Zwischen ausgetrocknetem Tang suchen sie nach Muscheln und sind dabei nicht nur erfolgreich, sondern auch wesentlich geschäftiger als so manch andere Gesellen:


Es fällt wirklich schwer, den Silbermöwen keine menschlichen Eigenarten anzudichten!
Ihr skeptischer Blick, wie sie sich den Schlick vom Fuß schütteln, die Gefiederröcke raffen und grummelnd die matschige Kneipp-Kur auf sich nehmen, für einen Krümel Eiswaffel oder einen halben, mit Ketchup durchweichten Pommes frites.
Dabei sind sie doch im Grunde wahrhafte Bilderbuch-Opportunisten.


Krähenvögel sind sehr eng mit Paradiesvögeln verwandt. Der Ursprung der Krähen liegt wie der der Paradiesvögel auf Neuguinea und den zahlreichen kleinen Inseln in der Umgebung. Während aber Paradiesvögel auf das Gebiet Neuguineas beschränkt blieben, leben Rabenvögel heute fast überall auf der Welt.

(C) 2013 MSB Matthes & Seitzt Berlin Verlagsgesellschaft mbH

Rabenvögel sind das zentrale Thema in Cord Riechelmanns Portrait Krähen. Er berichtet darin Überraschendes wie die verwandtschaftliche Nähe von Krähen und Paradiesvögeln (S. 59). Auch über Dohlen liest man, etwa von Konrad Lorenz‘ Verwunderung über homosexuelle Dohlenpaare oder die Äsopische Fabeldohle (die gerne ein Pfau gewesen wäre) und dem damit einhergehenden Jahrhunderte alten Problem, menschliche Eigenschaften auf Tiere zu übertragen und so ihre wahre Natur auszublenden. In dem lesenswerten, kleinen Büchlein in krähenschwarz konzentriert sich eine ganze Bandbreite an Themen und Denkanstößen.


An den felsigen Küsten Nordfrankreichs lässt sich auch immer wieder die Felsentaube beobachten, die als Stammform der „Straßentaube“ angesehen wird. Zwar zeigen Felsentauben variantenreiche Gefiederzeichnungen auf, doch die ursprüngliche Färbung ist ein dunkel- bis hellgrauer Körper mit grünlich-violett schimmernden Halspartien, zwei breiten schwarzen Flügelbinden und einer deutlich sichtbaren weißen Wachshaut am Oberschnabel. Eine kräftig bernsteinfarbene Iris ist ebenfalls typisch für Felsentauben.


Episode Vier –

Abend

Gegen Abend beziehe ich Posten auf der zur Aussichtsterrasse aufbereiteten Barrage du Mont Saint-Michel. Auf dem Stauwehr des Couesnon, der hier in die Bucht mündet, befinden sich zahlreiche zu Bänken umfunktionierte Stufen, von denen aus ich mir den Sonnenuntergang und den Berg anschauen will.


An die Brüstung der Brücke gelehnt beobachte ich, wie Stockenten auf dem Wasser unter mir dahintreiben. Über die zu einem Damm geschichteten Steine in der Mitte des Flussbettes huschen Bachstelzen. Die Flut wird hier zu einem kleinen See gestaut. Bei Ebbe soll so genügend Wasser in den Gezeitensog fließen, um die Sedimente in die Bucht hinauszutragen und dadurch die weitere Verlandung um die Insel Mont Saint-Michel zu verhindern.
Eine Türkentaube setzt sich keine drei Meter neben mich auf die Brüstung und gemeinsam schauen wir eine Weile zum Berg rüber.


Vor meinem geistigen Auge taucht das Motiv einer Postkarte auf, die ich einige Tage zuvor gekauft habe. In der aufziehenden Dunkelheit strahlt die illuminierte Abtei in warmem Licht, während der Berg und das Meer in Nachtblau versinken. Genau in der Mitte hinter dem Berg hängt ein großer, runder Vollmond. Ja, so ein Bild hätte ich auch gerne. Doch noch immer hat drüben auf dem Berg niemand das Licht angeknipst und die Straßenlampen wie goldene Sterne aufleuchten lassen. Vom Vollmond ganz zu schweigen. Stattdessen steigt vom Meer her ein feiner Dunst auf, der den Berg immer fahler erscheinen lässt. Ich werde mich wohl weiter an der Postkarte erfreuen müssen.


Immerhin kann ich etwas später auf dem Parkplatz noch eine Linsenwolke am Himmel entdecken. Es ist nur ein kleines Exemplar, manche türmen sich zu Stapeln Dutzender pfannkuchenartiger Wolkenscheiben auf. Doch da ich noch nie eine Linsenwolke in natura gesehen habe, freue ich mich sehr über dieses Abschiedsgeschenk, das mir die abendliche Thermik in der Bucht beschert.
Der Seidensänger im Gebüsch am Parkplatz schweigt, doch ich hoffe bis zum letzten Moment, er möge sich in seiner ganzen Pracht zeigen. Tatsächlich flattert noch einmal etwas aus dem Dickicht, aber es ist „nur“ eine letzte Heckenbraunelle. Der Dunst vom Meer verdichtet sich rasch, je kühler der Abend wird.
Ein letzer Blick zum Mont Saint-Michel. Und hier aus der Ferne im Abendlicht ist er auch wieder der alte, majestätische, mystische Berg.


Weitere Infos

Verwendete Zitate

Johanna Romberg: Federnlesen
Vom Glück, Vögel zu beobachten
LÜBBE Verlag
ISBN 978-3-431-04088-3

Uwe Westphal: Schräge Vögel
Begegnungen mit Rohrdommel, Ziegenmelker, Wiedehopf und anderen heimischen Vogelarten
pala-verlag
ISBN 978-3-89566-342-0
Derzeit ist dieses Buch vergriffen.

Cord Riechelmann: Krähen. Ein Portrait
Naturkunden № 1
Matthes & Seitz Berlin
ISBN 978-3-88221-048-4

Alle Zitate mit freundlicher Genehmigung der Verlage.
Die angegebenen Links führen zu den Verlagsseiten.


Noch mehr Interessantes

Beitrag in der Zeitschrift BAUWELT Ausgabe 42.2014 als PDF

Unter dem Titel „Wege zum Mont Saint Michel“ schreibt Sebastian Redecke von seinem Ortsbesuch mit dem österreichischen Architekten Dietmar Feichtinger, welcher die neue Fahrdamm-Brücken-Konstruktion entworfen hat. Der Beitrag beschreibt die Notwendigkeit einer baulichen Neuerung des Zugangs zum Berg und schildert die historischen Hintergründe seit der Dammerbauung 1869. Zahlreiche Fotos liefern Ansichten und Einblicke vom Luftbild bis zum technischen Detail.
Sehr lesenswert!


Seidensänger im Dickicht – gut zu hören, aber schwer zu sehen… In der Beobachtungshütte an der Pointe d’Illemot am Ostufer der weitläufigen Baie de Saint-Brieuc habe ich ihn endlich erwischt. So ein bisschen jedenfalls.

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