„Birding on Borrowed Time“ von Phoebe Snetsinger

Warum kommt es so selten vor, dass kleine Mädchen im Vergleich zu kleinen Jungen schon früh im Leben von Vögeln fasziniert sind? – Mit dieser Frage beginnt die Autobiografie Phoebe Snetsingers über ihre mehr als 30 Jahre dauernde Faszination an Vögeln und wie sie es schaffte, zur ersten und bislang einzigen Frau zu werden, die über 8500 verschiedene Vogelarten in ihren natürlichen Lebensräumen beobachtet hat.

Nach dem ersten Kapitel könnte man bereits eine Ahnung von der Antwort auf die Eingangsfrage haben: die unterschiedliche Sozialisation, die fehlende Stimulation durch Eltern und Lehrer oder schlicht der Mangel an Zeit, die man als Kind in der Natur verbringen kann. Erst spät, mit 34 Jahren, hatte Phoebe Snetsinger jenen magischen Moment, in dem sie zum ersten Mal mit vollem Bewusstsein durch ein Fernglas schaute, um einen ganz bestimmten Vogel zu sehen. Sie war in Begleitung einer Nachbarin, die regelmäßig Vögel beobachtete und durch die Gläser sah sie einen bunten, kleinen und recht gewöhnlichen Vogel, einen Fichtenwaldsänger. Der grell orange-gelb leuchtende Vogel warf sie dennoch vor Erstaunen förmlich um – und machte sie für den Rest ihres Lebens süchtig (S. 18).

Zur Person

Phoebe Snetsinger wurde 1931 geboren und wuchs in Chicago und später in Lake County, Illinois, auf. Sie studierte Deutsche Literatur und arbeitete als Lehrerin in Philadelphia. Mit ihrem Mann David bekam sie vier Kinder und zog nach Minnesota. Hier geschah auch die Inspiration durch den Fichtenwaldsänger. 1967 zog die Familie nach St. Louis, Missouri, wo sich Phoebe Snetsinger einer wöchentlichen Birding-Gruppe anschloss und schon bald lokal sehr anerkannt war. Sie nutzte jede Gelegenheit, wobei sie den einen oder anderen Birding-Trip auch als Familienurlaub tarnte (S. 23) und so auch ihre Kinder an der wachsenden Passion teilhaben ließ.

Zuweilen liest man die Frage: Wer war Phoebe Snetsinger? Und diese Frage zu beantworten ist nicht ganz einfach. Sie war Mutter und Ehefrau in einem Amerika, das in den 1960er Jahren klare Vorstellungen von der Lebensgestaltung einer Frau hatte. Sie war zugleich aber auch die erste Frau, und der erste Mensch überhaupt, mit über 8000 beobachteten Vogelarten (und mit beobachtet meinte sie auch beobachtet). Diese beiden Seiten ihrer Persönlichkeit standen in einem nicht ganz unkomplizierten Verhältnis zueinander.
Sie selbst bezeichnete sich als tomboy, also ein eher burschikoses Mädchen, das sich an die Fersen ihrer Brüder heftete und viel durch die Umgebung stromerte, um die „interessanteren und angenehmeren Dinge“ mitzuerleben (S. 15).

Es ist nicht nur die schier unfassbare Menge an Vogelarten, die sie nachweislich beobachtet hat – im Jahr 1998 waren es 8512 (S. 214) der zu jenem Zeitpunkt etwa 10.200 bekannten Arten (oder 83,8%, wie Phoebe Snetsinger es bevorzugte auszudrücken) – sondern auch die Umstände, unter denen sie sich in einer damals absolut männerdominierten Szene behauptete.

Anlässlich ihres 85. Geburtstags 2016 – also siebzehn Jahre nach ihrem tragischen Tod – kreierte Google ein wirklich schönes Doodle zu Ehren Phoebe Snetsingers. Das Doodle setzt ein Zeichen für das wachsende Interesse von Mädchen und Frauen am Birding (2), in dessen Community zuweilen noch immer eine subtile Bevormundung durch männliche Beteiligte herrscht.

Peter Kaestner, den Phoebe Snetsinger 1991 in Malaysia traf und der zum damaligen Zeitpunkt nur etwa 100 Arten weniger auf seiner Life List hatte (S. 12), schreibt in seinem Vorwort, dass es vor allem ihre Integrität und ihr überbordendes Fachwissen waren (S. 3), die ihr diesen Erfolg ermöglichten. Kaestners wichtigste Grundsätze seiner Birding-Philosophie bestanden darin, selbst intensiv zu arbeiten und anderen gegenüber hilfsbereit zu sein. Phoebe fühlte sich diesem Motto nicht nur verbunden, sie empfand sogar, dass keine Worte ihren eigenen Ansatz besser zum Ausdruck brachten (S. 137).

Kaestner macht aber noch einen weiteren Punkt, welcher die bemerkenswerte Leistung Phoebe Snetsingers unterstreicht: Birding war ein anderes als heute. Es gab kein Internet, keine Bestimmungs-App, keine Mobiltelefone. Digitalkameras, die ein schnelles Erfassen der Vögel ermöglichen – und ein entspanntes Bestimmen zu Hause – gab es ebenfalls noch nicht; man musste vor Ort bestimmen, was man sah. Es gab zudem noch nicht einmal so umfassende Bestimmungsbücher wie heutzutage (S. 6). Auch die Unternehmen, die professionell organisierte Birding-Touren anboten, waren zu Beginn der 1980er Jahre auf eine Handvoll auf Ostafrika, Australien oder Costa Rica fokussierte Veranstalter begrenzt (S. 7)

Phoebe bereitete sich auf jeden Trip akkurat vor, studierte die wenigen verfügbaren Bestimmungsbücher und Taxonomien akribisch, lernte selbst die lateinischen Namen, und betonte mehrmals, dass die genaue Vorkenntnis einer Art unabdingbar ist bei der Bestimmung vor Ort. Sie beschreibt dies ausführlich in Kapitel 4 ihres Buches. Diese vorbereitenden Studien waren es auch, die sie letztendlich zu einer Expertin machten, denn in der aufkommenden Birder-Szene waren viele, die während der Touren kaum kannten, was sie sahen und auf die Bestimmung des Tourführers vertrauten (S. 3). Sie ging zuweilen auch ins Naturkundemuseum und fotografierte die dort ausgestellten Vögel, wenn es zu Vögeln eines Gebiets keine Literatur gab (S. 63)

Nach einem Kenia-Trip 1977 entstand ihr Dokumentationssystem, bestehend aus A6-Karteikarten, auf denen sie Art, Ort und Datum notierte, sowie Anmerkungen zur Sichtung aufschrieb und mit einem Farbcode für unterschiedliche Regionen arbeitete (S. 30). Sie schwor auf dieses System, insbesondere als in den 1990ern die Taxonomien durch Erkenntnisse aus der Forschung überarbeitet wurden und viele Arten geteilt wurden, weil sich genetisch nachweisen ließ, dass die Verwandtschaftsgrade der Unterarten einen eigenen Artenstatus zuließen. Es gab auch Karten von Arten, die sie nur gehört hatte und welche sie – entgegen des Reglements der ABA – nicht mitzählte.

Das Buch

Aus den Aufzeichnungen, die sich Phoebe Snetsinger während jeder ihrer Reisen sehr sorgfältig machte, entstand diese chronologische Biografie ihrer Birding-Karriere, beginnend mit der Sichtung des Fichtenwaldsängers 1967 bis zu ihrem letzten Trip nach Madagaskar 1999, wo sie im November bei einem Autounfall mit dem Tourbus ums Leben kam. Im Nachwort, das ihr Sohn Thomas verfasste, werden die letzten Stunden in ihrem Leben geschildert.

In weiten Strecken ist das Buch eine Berichterstattung von den vielen Touren und Reisen, die Phoebe Snetsinger unternommen hat. Sie zählt Sichtungserfolge auf und orientiert sich in ihrer Lebensgeschichte vor allem an den „Meilensteinen“, also den Arten, die sie in ihrer Weltliste und ihrer Nordamerika-Liste auf die nächst höhere Stufe brachten. Es sind auch diese Meilensteine, die in ihr den Kitzel des Wettkampfes auslösten. Als sie sich ihrer 5000. Vogelart näherte, schreibt sie, dass einige andere Birder vor ihr bereits die 5000er Sichtungsmarke erreicht hatten – allesamt Männer – und dass sie die Idee, die erste Frau zu sein, sehr ansprach und der Wettkampf-Aspekt zur treibenden Motivation wurde (S. 85).

Doch zwischen ihren Aufzählungen von Vogelarten, Tourorganisationen, Field Guide-Portraits und Überlegungen zur Dokumentation und Zählweise von Sichtungserfolgen liest man auch viel Persönliches. Manches benennt sie ganz konkret: das Erdbeben in Costa Rica, die Entführung und Vergewaltigung in Papua-Neuguinea, den Tod einer Reisebegleiterin in Nepal, der Schiffbruch vor Java, der abgeholzte Regenwald auf den Philippinen. Die Gedanken, die diese Erlebnisse begleiten, verraten viel über die Person Phoebe Snetsinger. Ende 1993 eröffnete ihr Mann ihr während einer Familienzusammenkunft, dass er sich von ihr scheiden lassen wollte. Zu unterschiedlich seien ihre Lebensweisen und Interessen. Im darauffolgenden Jahr arbeiteten beide hart an ihrer Beziehung.

Noch eine Sache taucht immer auf, wenn es um die Person Phoebe Snetsinger geht und um ihr Lebenswerk: das Melanom. Im Jahr 1976 wurde bei ihr Schwarzer Hautkrebs diagnostiziert. Der Tumor wurde entfernt und für acht Jahre schien das Problem aus der Welt. Während einer Tour in Panama 1981 bemerkte Phoebe allerdings einen geschwollenen Lymphknoten, welcher sich nach der Untersuchung als eine Metastase des früheren Hautkrebses herausstellte, mit einer äußerst aussichtslosen Prognose. Man gab ihr noch etwa ein Jahr, unter der Voraussetzung des gesamten medizinischen Prozedere – Operation, Chemotherapie, Bestrahlung – doch sie entschied sich dagegen. Nach der Entfernung des Tumors brach sie nach Alaska auf, denn sie wollte lieber noch drei Monate glücklich leben, als ein Jahr von Behandlung zu Behandlung zu eilen, um am Ende doch zu sterben. Aber was dann geschah, ist das, was dem Buch seinen Namen gab: ihr wurde Zeit geliehen, fast zwanzig weitere Jahre, in denen sie das tat, was sie mehr liebte als irgendetwas sonst: Vögel beobachten. Weitere zwei Male kehrte der Tumor zurück und jedes Mal ließ sie ihn entfernen und brach anschließend wieder auf, um noch mehr Vögel zu entdecken.

Illustrationen

Der Vogelkundler und Künstler Douglas Pratt, den sie 1993 während einer Mikronesien-Reise traf, steuerte 45 Zeichnungen zu dem Buch bei. Es sind 16 Farbtafeln in der Mitte des Buches und weitere 29 schwarz-weiße Abbildungen, die allesamt Phoebes Meilensteine zeigen. Auch das Cover ist von Doug Pratt und zeigt den Fichtenwaldsänger, der so etwas wie Phoebes Initialzündung war. Die Illustrationen kann man größtenteils auch auf der Homepage von Douglas Pratt betrachten, wo er die Originale zum Verkauf anbietet.

Desweiteren befinden sich im Anhang des Buches einige Abbildungen von den Karteikarten, die Phoebe zur Dokumentation ihrer Sichtungen verwendete. Auch eine Übersichtskarte mit den von ihr bereisten Ländern ist im hinteren Buchdeckel eingefügt.

Fazit

Das Buch ist von vorne bis hinten spannend geschrieben. Da ist der Wettkampf um die Artensichtungen, der, je länger man liest, nur spannender wird, da es zunächst lediglich ein persönliches Vorankommen ist, doch später in einen Lauf um den Titel als erster Mensch mit 8000 gesichteten Vogelarten umschlägt. Da ist zugleich auch der Krebs, der sich wieder und wieder bemerkbar macht. Aber insbesondere auf den letzten Seiten spürt man deutlich das Damoklesschwert, das nahende Ende, das man ja bereits kennt, der Busunfall auf Madagaskar.

Spannend ist aber auch Phoebe Snetsingers Privatleben, ihre Ehe und ihre Rolle sowohl als Mutter als auch Tochter. Ihre Entscheidungen für das Birding wirken oft zugleich wie Entscheidungen gegen die ihr am nächsten stehenden Menschen, doch für sie war das Birding eine Überlebensstrategie. Ein Jahr nach der wiederkehrenden Krebsdiagnose und der Auseinandersetzung mit den Gefühlen und Gedanken über Leben und Tod, keimte in ihr das Gefühl auf, sie könne der Krankheit davonlaufen. In einem Flugzeug zu sitzen und unbekannten Gegenden und Vögeln entgegen zu fliegen, löste in ihr ein Gefühl von Unbesiegbarkeit aus, etwas, das ihr half die Angst zu überwinden, die der Krebs auslöste (S. 71)

Dieses neue Leben, welches sie fast zwanzig Jahre führte, war einerseits nur möglich durch das beachtliche Erbe, das ihr der Vater hinterlassen hatte. Die Trips kosteten durchschnittlich 5000 Dollar (1) und mit Beginn der 1990er war sie bis zu sechs Mal im Jahr rund um den Globus unterwegs. Doch eine solche Leistung rein aus finanzieller Perspektive zu betrachten, wäre viel zu kurz gedacht. Jede dieser Reisen erforderte Planung, Vorbereitung und nicht zuletzt auch psychische und physische Kräfte, sie durchzuführen.

Es ist ihre Bestimmung gewesen, ihre Leidenschaft für dieses Leben als Beobachterin und Entdeckerin, die ihr diese Willensstärke verlieh, eine enorme innere Kraft, die sie auch den Krebs in Schach halten ließ.

Für mich ist ihre Biografie durchzogen mit zarten Parallelen zu meinem eigenen Leben als Mutter und leidenschaftliche Birderin. Ich kenne den inneren Zwiespalt, an einen Haushalt und seine Verpflichtungen gebunden zu sein und zugleich jede freie Minute im Jahr mit Reisen und Möglichkeiten zur Vogelbeobachtung zu verplanen. Für mich ist das Buch eine Inspiration zum Mutigersein entgegen der gesellschaftlichen Erwartungen an ein „anständiges“ Leben, aber auch auf die innere Stimme zu hören und der eigenen Leidenschaft zu folgen.

Datenblatt

Titel: Birding on borrowed time
Autorin: Phoebe Snetsinger
Sprache: Englisch
Einband: Paperback, 307 Seiten
Ersterscheinung: 2003
Verlag: American Birding Association
ISBN: 978-1-878-78841-2


Links

Homepage der American Birding Association
Homepage von Douglas Pratt und seiner Kunst
Webseite zum Google Doodle zu Ehren von Phoebe Snetsingers 85. Geburtstag

Weitere Quellen, auf die im obigen Text Bezug genommen wird
(1) Artikel aus der New York Times vom 2.12.1999
(2) Artikel aus dem Independent vom 8.6.2016

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