„Boten des Wandels“ von Holger Schulz

„Den Störchen auf der Spur“

Die Weißstörche gehören zu unseren bekanntesten heimischen Vögeln. Kaum ein anderer symbolisiert den jährlichen Vogelzug mehr als Meister Adebar. Er ist eine moderne Type der Fruchtbarkeit und muss mitunter als Geburtskünder und Hebammenlogo herhalten. Als Kulturfolger treibt er sich in unmittelbarer Nähe zum Menschen herum. Der Froschvertilger ist Frühlingsbote und Herbstkünder. Man möchte also meinen, über den Storch sei alles bekannt und alles gesagt.

Doch Holger Schulz gab seinem neuesten Buch nicht ohne Grund den Titel „Boten des Wandels“, denn vieles, was bislang über den Weißstorch bekannt ist, entspricht nicht immer dem Bild, das die Menschen von ihm haben. Wie mühselig diese Erkenntnisse erarbeitet werden mussten, wie sie sich auch jetzt noch immer verändern und wo es nach wie vor „schwarze Flecken“ auf der Storchenlandkarte gibt, davon erzählt Holger Schulz auf eine sehr lebendige, nüchterne und doch eindrucksvolle Art. Es ist ein Abenteuerbuch geschrieben von einem Abenteurer, das merkt man schnell. Und er betont gleich zu Beginn seine Motivation zu dem Buch:

„Es sollte kein weiteres Fachbuch werden, sondern ein Buch über meinen langen Weg zu und mit den Störchen.“
—Seite 11

Und dieser Weg beginnt bereits in der Schulzeit mit der Frage, ob ein Biologiestudium mit einer vier in Mathe überhaupt in Frage kommt. Schon damals inspirierten Holger Schulz die Forschungs- und Reiseberichte von Biologen und dies war auch die Zeit, in der sein Forscherdrang endgültig auf Nährboden fiel.

„Naiv, wie ich damals war, schwebte mir also ein Leben als eine Art Safari-Schriftsteller vor. Als tollkühner Forscher, der seine Erlebnisse in der Wildnis in Fotos, Filmen und Büchern festhält und damit die Menschen für den Naturschutz gewinnt.“
—Seite 31

In gewisser Weise kam es auch so.
Das Buch ist vor allem eine Biografie, keine lückenlose zwar, aber es zeichnet eben den Weg mit den Störchen im Leben von Holger Schulz nach.

Autor

Holger Schulz begann seine wissenschaftliche Karriere in den 1970ern mit einem Studium in Agrarbiologie an der Universität Hohenheim-Stuttgart, welches er nach zwei Semestern ins Fach Biologie wechselte. Nach dem Diplom folgt in den frühen 1980ern die Promotion an der Universität Braunschweig und kurz darauf erhält Holger Schulz seinen ersten Forschungsauftrag vom WWF in Afrika und dem Nahen Osten, wo er den Zug der Störche unter dem Aspekt der Gefährdung auf der Ostroute und in den afrikanischen Wintergebieten untersuchte. Aus diesen Erkenntnissen entstand sein erstes Fachbuch über Störche: Weißstorchzug – Ökologie, Gefährdung und Schutz des Weißstorchzugs in Afrika und Nahost.

Nach diesem Forschungsprojekt mit den Störchen übernahm Holger Schulz von 1988 bis 1990 die Leitung des National Wildlife Research Center in Ta’if, Saudi Arabien, wo er sich unter anderem den Kragentrappen in der arabischen Wüste widmete. Mit Trappen, genauer mit der Zwergtrappe, hatte er sich während der mehrjährigen Forschung für seine Dissertation beschäftigt und dabei in Südeuropa und Nordafrika gearbeitet. Er war einer der Ersten europäischen Forscher, der die gerade neu entwickelte Telemetrie anwendete, bei der einzelne Individuen mit Minisendern ausgestattet und durch Peilgeräte geortet werden konnten. Insofern kam dieser Auftrag nicht ungelegen, aber als der NABU ihn fragte, ob er ein Institut in Schleswig-Holstein leiten wolle, bei dem es um den Schutz des Weißstorches ging, zögerte Holger Schulz keinen Augenblick. Neun Jahre lang war er dann in Bergenhusen tätig, baute das Institut auf und führte in dieser Zeit weitere Forschungsprojekte durch, darunter die Koordinierung und Durchführung des Internationalen Weißstorchzensus – ein Unterfangen, welches in Zeiten ohne E-Mail und Internet noch einen gigantischen Aufwand bedeutete.

Im Jahr 1999 machte sich Holger Schulz als Wildlife Consultant selbständig. Seine erste Tätigkeit übte er für die Schweizer Organisation Storch Schweiz aus, welche sich seit den 1960ern mit der Wiederansiedlung des Weißstorchs in der Schweiz beschäftigt hatte, mit der Jahrtausendwende aber einen radikalen Wandel vollzog und sich seither einzig dem Schutz der Wildbestände widmete. In diesem Zusammenhang sollte ein umfangreiches Projekt den Zug der Störche begleiten. Dafür wurden Störche besendert und ihre Zugroute von mehreren Teams bis nach Gibraltar verfolgt. Holger Schulz übernahm die Koordinierung und Durchführung des Projekts, welches SOS Storch getauft wurde. Im darauffolgenden Jahr geht das Projekt einen weiteren Schritt, indem die Störche in ihren Winterquartieren in der Sahelzone aufgespürt werden sollten. Kernfragen dieser Projekte drehten sich um die Aufenthaltsorte und Zugwege der Störche, ihre Nahrungsquellen und die Gefahren, denen sie in den Wintergebieten ausgesetzt sind.

Inhalt des Buches

Viele dieser Stationen seines Lebens mit den Störchen beschreibt Holger Schulz sehr ausführlich. So schildert er seine Arbeit für den WWF auf sechzig Seiten, die Zugbegleitung der westziehenden Störche nach Spanien auf knapp vierzig Seiten und die Forschungsreise nach Nordafrika und den Sahel auf gut fünfzig Seiten. Zusammen mit weiteren Berichten füllen seine Reiseerlebnisse zwei Drittel des Buches. Er lässt den Leser seine Abenteuerlust spüren, aber auch die Entbehrungen und Gefahren, die sich auf diesen Forschungsreisen ergaben. Obwohl das Buch damit eben kein Fachbuch ist, erfährt der Leser doch immer noch sehr viel über den Weißstorch.

Das Kapitel über die Jahre als Institutsleiter in Bergenhusen liest sich wie ein Brutjahr der Weißstörche, beginnend mit der Ankunft in Bergenhusen und dem Besetzen der Nester. Themen wie die Rivalität der Störche, der Verlust von Jungen durch Wetterkapriolen, der Mangel an Nistmaterial in den vom Menschen dominierten Kulturlandschaften sowie der dort oft herrschende Nahrungsmangel und auch der klare Fingerzeig auf die intensive Landwirtschaft als Hauptgrund für die bedrohten Nahrungsquellen kommen hier zur Sprache.

Die Störche in Bergenhusen, wo Holger Schulz zehn Jahre lang das Michael-Otto-Institut des NABU zum Schutz der Weißstörche leitete. Der Clip stammt vom Youtube-Kanal des Autors.

Auch die gängige Storchenromantik kann in diesem Kapitel nicht standhalten. Die Forschung widerlegt den Glauben von ewiger Treue der Partner und Familienglück unter den Weißstörchen. Störche sind Opportunisten und wer zuerst kommt, mahlt eben zuerst. Zahlreich klappert der Storchennachwuchs nur dort, wo es auch genug Nahrung gibt und die Witterung einen Storchensommer lang mitspielt. In diesem rauen Szenario der Storchenrealität gibt es einen sehr spannenden Schwenk in den kroatischen Naturpark Lonjsko Polje entlang der Saveniederung. Holger Schulz, der auch als Tierfilmer tätig ist, besuchte das größte europäische Feuchtgebiet, um die Tonaufnahmen für eine Produktion eines befreundeten Tierfilmers beizusteuern. Die Störche in Lonjsko Polje waren während der Dreharbeiten mit der Aufzucht der Jungen beschäftigt. Der Unterschied zwischen den Brutbedingungen dort und denen im kühlen Schleswig-Holstein ist immens, insbesondere die Nahrungssituation, weshalb es den kroatischen Störchen gelingt pro Saison bis zu sechs Junge aufzuziehen. Zurück in Norddeutschland konstatiert Holger Schulz:

„Ein oder zwei, selten mal drei Junge zähle ich auf den Nestern. Einerseits ein hübscher Anblick, gleichzeitig aber ein trauriges Bild, gemessen am Bruterfolg, den wir in den Save-Auen erlebten.“
—Seite 142

Eines der Hauptthemen neben dem Schutz der Störche in Deutschland (und auch der Schweiz) sind die sich verändernden Bedingungen auf den Zugrouten. Die Gefahren für Störche liegen nicht nur in natürlichen Bedingungen wie Wetter, Wüsten oder die Mittelmeerpassage bei Gibraltar. Hinzu kamen in den letzten Jahrzehnten neue Hürden, wie riesige Wasserzisternen, Stromleitungen, Windparks und Müllhalden. Insbesondere auf der Iberischen Halbinsel sind gigantische Deponien entstanden, auf denen sich die Störche ihr Futter suchen. Ähnlich wie in Deutschland kam es auch in Spanien zu tiefgreifenden Veränderungen in der Landschaft und Landwirtschaft. Olivenplantagen und Reisfelder gehören nun zum Landschaftsbild und viele der einstigen Feuchtgebiete im Hinterland wurden trockengelegt, Flüsse zur Bewässerung angezapft und Anbauflächen enorm vergrößert, sodass die Nahrung auf den Zugrouten knapp wurde. Kompensiert haben die Störche dies durch die neue Futterquelle Mülldeponie.

„In Spanien verbrachten unsere Senderstörche bis zu 90 Prozent ihres Tages im Müll. Und zwar nicht nur zur Nahrungssuche während des Überwinterns, sondern bereits beim Zug über die Iberische Halbinsel. Zwischen den Pyrenäen und dem Süden Andalusiens „hangelten“ sich viele der Vögel gewissermaßen von Deponie zu Deponie.“
—Seite 267

Eine andere Überraschung waren die Wintergebiete im Sahel und ihre Futterressourcen. Während in den Brutgebieten das bevorzugte Habitat aus Feuchtgebieten und Wiesen besteht und Frösche, kleine Nager und Insekten die Hauptnahrung darstellen, stellte sich im Sahel heraus, dass die Störche sich an größeren Wasserstellen sammelten und überwiegend von Heuschrecken ernährten. Erstaunlich ist auch, dass dieses Wissen erst in den letzten zwanzig, dreißig Jahren errungen wurde durch Feldforschung wie der von Holger Schulz. Wie unbekannt und fremd der Storch im Grunde genommen doch war und wie sehr sich auch in der Zeit der Erforschung noch ihre Lebensbedingungen veränderten ist eine Erkenntnis, zu welcher die Leser des Buches gelangen können.

Fotos

Im Mittelteil des Buches befinden sich sechzehn Seiten mit Farbfotos von Holger Schulz, die zu den Themen in den Kapiteln Bezug nehmen. Gezeigt wird das Brutgeschehen in Bergenhusen, die Besenderung von Störchen in der Schweiz, Bilder von der Westafrikatour und verstörend vor allem die Bilder von den spanischen Mülldeponien.

(C) Holger Schulz. Aus: „Boten des Wandels“, Bildtafeln Seiten 10/11.
Fazit

In seinem Schlusskapitel geht Holger Schulz noch einmal zusammenfassend auf die Gefahren während des Vogelzugs ein, das Thema, das ihn während seiner Forschungstätigkeit mit den Störchen am meisten beschäftigte. Neben den Deponien als Gefahrenzone, stellt der Stromtod die Hauptursache für das Verenden der Störche dar. Außerdem gibt es menschengemachte Hürden wie die riesigen Windparks entlang der Zugrouten, die illegalen Abschüsse sowohl auf der Westroute als auch der Ostroute und die Veränderungen durch Klimawandel und Landwirtschaft. Es bleibt nicht viel Optimistisches zu sagen, außer dass die Störche über eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit verfügen, die es ihnen am Ende ermöglichen könnte, mit den menschengemachten Veränderungen zurechtzukommen. Auch darin sind sie „Boten des Wandels“.

Das Buch ist sehr packend geschrieben. Neben seiner sachlichen und kurzweiligen Erzählweise würzt Holger Schulz seine Schilderungen mit Humor, Spannung und kritischen Hinweisen. Vieles stammt aus erster Hand und liest sich sehr authentisch, hin und wieder schwingt aber auch ein „Wikipedia-Klang“ mit, etwa bei den Informationen zum kroatischen Naturpark Lonjsko Polje (der im Buch als Nationalpark bezeichnet wird).

„Boten des Wandels“ ist ein kritischer Blick hinter das althergebrachte Bild der großen Vögel. Nicht dass es überraschen würde, dass auch der Storch vom menschlichen Handeln in Mitleidenschaft gezogen wird, doch der konzentrierte wissenschaftliche Nachweis dieser Tatsache, den das Buch präsentiert, wirkt umso ernüchternder. Man mag Holger Schulz‘ Optimismus gar nicht so recht teilen. Ein beklemmendes Gefühl bliebt.

Datenblatt

Titel: Boten des Wandels – Den Störchen auf der Spur
Autor: Holger Schulz
Einband: Paperback, 288 Seiten
Ersterscheinung: 12.03.2019
Verlag: Rowohlt Polaris
ISBN: 978-3-499-63370-6

Ich danke dem Verlag für die freundliche Genehmigung der Zitate und der zur Verfügung gestellten Bilder.


Links

Das Buch beim Verlag
„Boten des Wandels“ auf der Homepage des Rowohlt Verlags mit einer Leseprobe

Homepages über die Arbeit von Holger Schulz
SOS Storch – Storchenzug im Wandel
Auf der Webseite finden sich Informationen zu dem im Buch beschriebenen Projekt der Storchenbegleitung während des Westzuges über Gibraltar. Das Projekt wurde von der Gesellschaft Storch Schweiz initiiert.

Dr. Holger Schulz | Wildlife Consulting

Die faszinierende Welt der Tiere
Eine umfangreiche und vielseitige Webpräsenz über seine Nebentätigkeit als Tierfilmer. Hier gibt es auch Videos zu den Müllstörchen in Südspanien.

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