Nistkastenprotokolle
nannte Claudia Koppert 2013 das Material zu „Im Vogelgarten“, das 2019 im Verlag Atelier im
Bauernhaus in Buchform erschienen ist. Das
wäre auch ein hervorragender Titel gewesen, denn die sechzehn Erzählungen des
Buches sind tatsächlich so etwas wie Nistkastengeschichten. Dank dieser Texte
erhält der Leser Einblick in Nester und Gelege, erfährt von ihrer
Beschaffenheit, ihrer Schönheit, ihrer Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit.
Die Erzählungen schwingen sich durch den Jahreskreis, und der Leser mit ihnen,
wie auf einer Schaukel aus Kindertagen, auf der alles so intensiv und lebendig
vorbeizieht, als würde es in Zeitlupe geschehen.
Der tiefe Blick in die gut fünfzig Nistkästen im Garten des ehemaligen Forsthauses, in dem die Autorin seit zwanzig Jahren lebt, wird begleitet von Erzählungen über Gäste und Besucher, menschliche als auch tierische, von Nachbarn, von den Haustieren – drei Schafen, zwei Katzen und einer Hündin – von den Feldern und der Autobahn, von den Bäumen, von Glück und Unglück und allem voran von den Vögeln. Dreiunddreißig Arten halten sich übers Jahr im Vogelgarten auf, sechzehn als Brutvögel.
Für diese Art zu schreiben, hat sich im Deutschen noch kein Name gefunden, der sich durchgesetzt hätte. In der englischen Sprache nennt es sich Nature Writing.
Das unbekannte Genre
Nature Writing fand in Deutschland erst durch Judith Schalansky ein Zuhause. Sie ist die Herausgeberin der Naturkunden-Reihe beim Verlag Matthes & Seitz, wo sich inzwischen knapp fünfzig Titel des Genres wiederfinden.
Nature Writing scheint kompliziert für deutschsprachige Autoren und gerade macht man sich auf, die Gründe dafür zu erörtern. Es liegt jedenfalls nicht an der Natur, die es hierzulande ebenso gibt wie im „Mutterland“ des Nature Writing, den USA. Eher scheint es die Mixtur zu sein, aus der sich Nature Writing zusammensetzt, die es dem ordnungsliebenden Deutschen irgendwie schwer macht.
Es gibt das Genre als Lyrik und in Prosa. Im Mittelpunkt steht das Ich, das von der Landschaft, der Natur erzählt, nicht fiktiv, sondern biografische Spuren hinterlassend. Es birgt wissenschaftliche, kulturelle, politische und biologische Aspekte, derart informativ, dass man geneigt ist, das Prosawerk als Sachbuch oder Ratgeber zu verorten. Das Ich erscheint in Beziehung zur Natur, und lässt den Leser teilhaben, wie es von ihr geprägt, verändert, reflektiert wird.

Claudia Koppert liegt das Nature Writing offenbar, denn genau
das alles geschieht „Im Vogelgarten“. Natürlich, darin ist es schon etwas mehr,
als die eingangs erwähnten Nistkastengeschichten. Das Buch spricht zwischen den
Zeilen und zuweilen auch ganz offen an, was nicht stimmt am Naturverständnis
unserer Zeit. An den Begradigungen und Einebnungen, den Bereinigungen und
Vereinheitlichungen der Landschaft. Da geht es um vogelfreundliche
Dachsanierungen, um herbstliche Rasenpflege und Laubgebläse, um Insektenschwund
und Prädatoren, um Nistmaterial und Massentierhaltung – aber nie unausgewogen,
nie anklagend oder belehrend. Eher wie eine Feststellung: „So ist es eben.“
Ja, manchmal klingt auch eine leichte Resignation durch.
Weisheit aus dem Nistkasten
Der Garten, von dem das Buch erzählt, ist ein Ort der Erholung, des Lebens und Sterbens und auch ein Ort der inneren Heilung. Er ist ein Hortus, ein Gemeinschaftsprojekt von Mensch und Natur. Die Vögel werden zu Mitgestaltern, verbreiten Samen und bringen dadurch Pflanzen zum Wachsen. „Pflanzanregungen“ nennt Claudia Koppert das und gesteht, die meisten davon wieder zu verwerfen, doch manches darf eben auch wachsen wie es will. Die Vögel werden zu „Erntehelfern“, wenn die Beerensträucher reifen.
„Garten“ ist das Thema des Buches. Garten als Lebensraum und seine Bewohner als Messlatte dessen, was in ihm wachsen und gedeihen soll. Opulenz liest sich da heraus, von üppigen Hecken ist die Rede, von Blütenpracht in jeder Ecke und zu jeder Jahreszeit. Das ist gegen den Strom, gegen den Zeitgeist und sogleich wird Peter Berthold zitiert, wie er neunzig Prozent der deutschen rasenlastigen Gärten als „Psychopathengärten“ bezeichnet.
Bille und ich unterhalten uns, ob es sinnvoll ist, in dem Fall von Psychopathologie zu sprechen. Als Psychologin hat sie die in Frage kommenden Stichworte aus dem internationalen Diagnoseschlüssel seelischer Krankheiten parat: schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen geprägt von Zwangshandlungen, bestimmt von enormer Angst vor Kontrollverlust, Angst, dass einem, was wächst, über den Kopf wächst, Ordnungszwänge, Eingrenzungs- bis hin zu Vernichtungsimpulsen, die kaum zu regulieren sind.
„Aber es ist fraglich“, sagt Bille, „ob man von Psychopathologie sprechen kann, wenn die Bevölkerungsmehrheit betroffen ist.“
Ich meine, was in den Gärten zur Pathologie und Lebensfeindlichkeit entgleist, ist ein zutiefst menschlicher Antrieb: sich eine sichere, nährende Umgebung zu schaffen. Aber wir leben seit langem nicht mehr in der Wildnis, und wir haben für alles maschinelle Verstärkung. (S.13/14)
Es hat auch einen feinen, intelligenten Humor, das Buch, ein schelmisches Lächeln, ein versöhnliches Augenzwinkern.
Da es um Vögel geht, muss auch das Futter erwähnt werden und das Nistmaterial. Wenn man meint, inzwischen kann es kaum noch etwas über Vögel geben, was noch nicht in einem der ornithologisch angehauchten oder getränkten Bücher niedergeschrieben wurde, dann darf man bei diesem Buch staunen. Insekten – im Buch speziell sind es die Hummeln – sind ein zu erwartendes Thema. Da ist aber zum Beispiel auch das Kapitel über Moos. Eigentlich ist es eine Reise durch Internetdatenbanken über Moosarten und deren Vorkommen, den Vorlieben der Vögel, dieses oder jenes spezifische Moos im Nest zu verbauen, den attraktiven Eigenschaften von Moos – nicht nur für Vögel – abgerundet durch einen historischen Schwenk zu Carl von Linné, der sich bereits im 18. Jahrhundert über das Moos Gedanken machte. Moos verhindert Nässe im Nest, weil es Feuchtigkeit absorbiert. Darüber hinaus wirkt es antimikrobiell und schützt die Nestbewohner vor Infektionen. Nestbau und Moos, das geht Hand in Hand, sofern es genügend Moos gibt.
Die Moose in den Vogelnestern erschienen mir in einem ganz neuen Licht. (S.138)
Mir inzwischen auch.
Vom Lohn all der Mühe
In Sozialen Netzwerken begegnet man zuweilen dem Typus Vogelfreund, in dessen Augen ein Vogelleben eine hochkomplizierte Angelegenheit sein muss. Er postet Fotos von in Knödelnetzen erhängten Meisen, verweist auf die Gefahr der Strangulierung beim Nestbau durch Haustierhaare, hat Bedenken bei der Vogelfütterung, entweder weil zu wenig oder weil zu viel gefüttert wird, ist in Sorge wegen der Scheibenanflüge oder der drohenden Unterernährung der 150 Starenkinder im Fütterungseinzugsgebiet, und er weiß und weiß auch wieder nicht, wann ein Küken ein Nestling oder ein Ästling ist und ob er – und unter welchen Umständen – berührt oder gar wieder ins Nest zurück gesetzt werden darf. Für diesen Typ Vogelfreund (und er existiert wirklich), ist das Buch vermutlich ein Sammelsurium an Ungeheuerlichkeiten. Für alle anderen ist es ein Buch, das von einer großen Freiheit erzählt, einer feinen Balance aus Distanz und Nähe der Gartenbewohner zueinander, einem mal mehr und mal weniger scheuen sich Annähern aneinander. Ein beneidenswert unkompliziertes Miteinander durch Höhen und Tiefen des Gartenjahrs, an dem uns Claudia Koppert teilhaben lässt.
Sie schaut in die Nistkästen – mal aus Neugier, mal aus Sorge – und erblickt Tod und Leben darin, manchmal auch nur noch die Überreste des einen oder des anderen. Sie fotografiert, notiert, markiert, dokumentiert. Sie sammelt das ausgebürstete Fell des Hundes, welches sie in allen möglichen Nestern verbaut wiederfindet (ohne dass sich ein Vogel darin verfangen hätte…).
Sie entdeckt Kurioses, wie die akkurat eingearbeitete blaue Plastikschnur in einem Spatzennest, welche zur ersten Brut die Nestkante fein säuberlich umrandet, und etwas später die des erweiterten Nestes der zweiten Brut ebenfalls, wieder fein säuberlich drapiert, und schließlich entdeckt sie diese Schnur noch im Dezember in einem der Kästen, in denen sich das Sperlingspaar ein Schlafnest eingerichtet hat.
Wegnehmen mochte ich sie auch diesmal nicht, obwohl ich um die tödliche Gefahr weiß, wenn ein Vogel sich darin verfängt. Die Schnur schien die beiden Spatzen glücklich zu machen, und sie hatten schließlich Erfahrung damit. (S. 158)
Sie richtet das allzu lose in die Weinreben gewerkelte Nest der Grauschnäpper wieder her und bewahrt die Jungen vorm Absturz. Sie beschirmt den ersten Flugtag der Blaumeisenbrut, um Katze und Hund im Auge zu haben, trägt Küken in Gebüsche zurück. Sie spricht mit dem Garten und seinen Bewohnern.
Während man all diese Geschichten liest, wünscht man sich,
auch solche Geschichten erzählen zu können. Zwangsläufig denkt man immer wieder
über das eigene Naturverständnis nach. Ich glaube, es ist diese intensive Nähe
zu den Gartenbewohnern, die fasziniert, die Sehnsucht weckt nach eigenen
Erlebnissen dieser Art, die nämlich etwas wert sind, weil sie etwas kosten. Sie
erfordern unseren Fokus, unsere Aufmerksamkeit. Sie verlangen unsere Zeit und
Hingabe. Sie erwarten von uns, Prioritäten zu ändern, aufzugeben, loszulassen,
anders zu machen.
Und so finden sich auch Erzählungen im Buch, davon, was zählt und was lohnt.
Der Garten ist eine Lebensaufgabe, ein Werk der Endlosigkeit, wenn man so will.
Ein Ort in dem nichts nur aufwärts strebt, sondern in dem auch verwelkt,
verdirbt, stirbt, für das man sich so aufgerieben hat. Er ist ein Ort der
Mühsal und was darin gedeiht, könnte man auch andernorts einfacher haben. Aber
ist das nicht genau der Punkt? Verliert man dadurch nicht die Nähe zum Garten,
zur Natur? Verliert man nicht dadurch auch das Interesse und die Liebe daran?
Wie also kann man dann noch erwarten, solche Geschichten erzählen zu können…
Die Menschen müssen nicht abdanken, damit die ökologischen Systeme sich regenerieren. Wir könnten – nur ein klein wenig utopisch gedacht – die werden, die wir sind: irre talentierte irdische Geschöpfe, sogar fähig, sich zu beschränken, wenn es denn unbedingt sein muss.
„Menschen-Highlife im irdischen Gewimmel – wozu haben wir denn den Grips!“, sage ich zur Hündin.
Worauf das hinauslaufen könnte? Der Biologe Wilson* bringt einen Begriff unserer ebenso notwendigen wie utopischen Wesensbestimmung ins Spiel, als ich zum ersten Mal davon las, lachte ich schallend: Wir müssten uns darauf einrichten, eine „tolerable parasitäre Belastung“ zu werden. Belastend ja, aber verkraftbar für die Ökosysteme der Erde. Nutzen, ohne zu vernichten. Zusammen um den Boden unter den Füßen kämpfen. (S.102,103)
* Gemeint ist Edward Osborne Wilson, ein amerikanischer Insektenforscher und Ameisenspezialist. Er hat zahlreiche Bücher zu Evolution, Sozialbiologie, Ameisen und der Rolle des Menschen veröffentlicht. Das Buch, aus dem Claudia Koppert hier Gedanken vorstellt, ist „Der Sinn des menschlichen Lebens“ (Verlag C.H.Beck, 2015)
Zur Autorin
Claudia Koppert wurde 1958 in Heidelberg geboren und ist studierte Sozialpädagogin, wusste aber nach Studienende, dass das nichts für sie war. Es zog sie ins Verlagswesen, ab 1981 als Lektorin für Verlage in Heidelberg und Berlin, und sechs Jahre später als freie Lektorin, vorwiegend von Sachliteratur und wissenschaftlichen Texten. Neben einer zweijährigen Lehrtätigkeit an der TU Berlin im Bereich Frauenforschung, hielt sie Vorträge und veröffentlichte erste eigene Texte. Der literarische Durchbruch kam 2003 mit ihrem Roman Allmendpfad.

Illustrationen
Das Titelbild und die sechzehn Illustrationen im Innenteil jeweils zu Beginn einer Erzählung stammen von dem jungen Künstlerduo Viola Konrad und Tilman Koppert.
Aber man tut dem Buch Unrecht, wenn man nicht hervorhebt, dass auch seine Sprache eine Illustration ist. Wie Claudia Koppert ihre Wahrnehmungen schildert, mit Worten die Merkmale der Vögel nachzeichnet, das ist bemerkenswert und ganz im Sinne des Nature Writing.
Mein Gott, wie schön es ist, hellstes, flaumiges Gefiedergelb, ein Bilderbuch-Blaumeisenküken, leider ohne Sinn und Verstand für Elstern und Katzen. Die Hündin tigert scheelen Blicks vorbei, sie weiß genau, dass es unter meinem Schutz steht, aber mein Schutz nicht lange währen wird. Ein Foto zeigt es auf mich zu flatternd, die Schwingen bewegungsverschwommen, daran hängend ein Kükenkörperchen mit langen, fadendünnen Läufen, Zehen. Es landet eine Handbreit vor mir im lockeren Gras, blickt mich an – und hüpft mir auf den Schoß, sperrt den Schlund auf, gelbumrandet, orangerot. Von dem Vögelchen ist auf dem nächsten Foto nichts mehr zu sehen, nur noch Schlund, sperrend, bettelnd. Ich entsetzt über die Zutraulichkeit, überrumpelt, erstarrt. Das Vögelchen hüpft mir vom Schoß, hüpft weiter durch den losen Grasbewuchs, durchs halbverrottete Vorjahreslaub. (S. 64)
Wir brauchen mehr dieser Bücher. Mehr Nature Writing. Mehr
persönliche Erlebnisse und Erfahrungen und den Austausch darüber. Es gibt genug
Regeln, die wir einhalten, genug Aspekte, die wir berücksichtigen müssen. Genug
Sachbücher und Fachliteratur, die uns die Welt erklären. Was fehlt, ist die
Erfahrung des Einzelnen mit alledem.
Wir brauchen aber auch mehr dieser Naturbücher, die uns die Furcht vor der
Naturnähe nehmen. Die Furcht, noch mehr zu stören und zu zerstören. Aber auch
die Furcht, wieder Teil des Ganzen zu werden. Es braucht Bücher, die uns von
der Naturlust erzählen, von den freiwilligen Entbehrungen, von der Abkehr des
Überflusses, von der zivilisatorischen Askese, damit wir wieder hinein finden
in die Natur. Kein Ort wäre dafür besser geeignet, als der eigene Garten.
Datenblatt
Titel: Im Vogelgarten
Autorin: Claudia Koppert
Illustratoren: Viola Konrad, Tilman Koppert
Einband: gebundene Ausgabe, 164 Seiten
Ersterscheinung: 26.02.2019
Verlag: Verlag Atelier im Bauernhaus
ISBN: 978-3-96045-025-2
Alle Abbildungen und Zitate aus: „Im Vogelgarten“ von Claudia Koppert. Mit Genehmigung des Verlag Atelier im Bauernhaus.
Copyright 2019 by Verlag Atelier im Bauernhaus.
Links
Homepage des Verlag Atelier im Bauernhaus
Homepage von Claudia Koppert, auf der ich unter anderem ein Interview von Brigitte Borchers in der Zeitschrift HELENE fand
Ein interessanter Beitrag von Anne Haeming im „Spiegel“ über das Nature Writing in Deutschland.