Aus einer Laune heraus buchte ich im Mai die Fahrt nach Helgoland und begann mich erst einige Tage später zu fragen: Lohnt sich ein Tagesausflug überhaupt? Wie immer bei solch einer Frage, hängt es ganz davon ab, was man mit drei, vier Stunden Zeit auf der einzigen deutschen Hochseeinsel alles anstellen möchte. Zweifelsfrei sind drei, vier Tage auf Helgoland perfekt, doch wie geht es einem mit der Insel, wenn man es eilig hat?
Eine Zeit-ist-knapp-Reise.
Das leichte Vibrieren auf dem Achterdeck verrät, dass Leben in die MS Helgoland kommt. Wie aus dem Nichts tauchen Dutzende Lachmöwen auf, lungern auf Seilen, Trägern und Masten oder flattern kreischend über das brodelnde Wasser vor dem Heck, wo die Schiffsschraube kleine Fische zuerst in die Ohnmacht befördert und anschließend direkt in die gierigen Möwenschnäbel.
Vom Bug her ertönt das Nebelhorn und fast unmerklich setzt die MS Helgoland ein ganzes Stück zurück, wendet in der Cuxhavener Hafenbucht und macht sich mit einem Aufbrummen der Maschinen auf den Weg durch die Elbmündung Richtung Helgoland. Winkende Hände an Bord und am Landungskai, fehlt nur noch die Traumschiff-Musik, so schön ist das.

Wege nach Helgoland
Das Schiff ist randvoll
mit Menschen und die zweieinhalb Stunden Fahrt sind alles andere als traumhaft,
soviel vorweg. Doch es ist von allen möglichen Schiffverbindungen nach
Helgoland immer noch die Beste.
Fährverbindungen gibt es von April bis September von Cuxhaven (2 Stunden
Fahrzeit), Bremerhaven (3 Stunden), Hamburg (ca.3,5 Stunden mit Zwischenstopp
in Wedel und Cuxhaven) und Büsum (2,5 Stunden). Die Schiffe aus Bremerhaven und
Büsum benötigen zusätzlich Zeit beim traditionellen Ein- und Ausbooten der
Passagiere auf Helgoland.

Das Schiff von Hamburg ist der Hochseekatamaran Halunder Jet und eine Fahrt damit eben nicht ganz billig im Vergleich zu den anderen Verbindungen. Auf der Homepage der Helgoline wird damit geworben, dass mit der Anreise per Katamaran der Aufenthalt auf Helgoland der längste sei. Auch hier sollte man sich etwas Zeit nehmen und vergleichen, denn von Cuxhaven aus gibt es auch Verbindungen mit bis zu fünf Stunden Aufenthalt auf Helgoland und das günstiger und mit weniger Fahrzeit.

Wer also ohnehin von weiter her anreist, sollte sich die Zeit nehmen und Fahrzeiten und Preise der Reedereien vergleichen.
Nicht unerwähnt bleiben sollte die Möglichkeit per Propellermaschine von Cuxhaven/Nordholz oder Heide/Büsum nach Helgoland-Düne zu reisen, wodurch sich die Anreise auf dreißig Minuten verkürzt. Allerdings muss man für Hin-und Rückflug etwa 200 Euro pro Erwachsenem kalkulieren .
Nordsee
Das Meer ist brav. Der Himmel, wenn auch wolkenverhangen, ebenso. Die Sonne bricht sich im Laufe der Überfahrt Bahn und gewinnt sogar an Kraft, was mir am Ende des Tages einen ordentlichen Sonnenbrand beschert haben wird. Lachmöwen und Silbermöwen begleiten das Schiff eine Zeit lang. Neugierig äugen sie zu uns herab, folgen der schaumigen Spur aufgewirbelten Wassers, die die MS Helgoland hinter sich herzieht. Austernfischer kreuzen von Zeit zu Zeit. Gelegentlich lassen sie sich auf dem Wasser nieder. Einer flattert, taucht ab, flattert wieder auf und ist ganz plötzlich verschwunden. Ich starre auf den Fleck, wo ihn das Meer verschluckt hat. Das Schiff zieht weiter, ich verliere den Tatort aus den Augen und frage mich, ob mir meine Wahrnehmung einen Streich gespielt hat. Austernfischer tauchen zwar ganz passabel, aber sie sind keine Pinguine und nach zehn, fünfzehn Metern ist Schluss mit Unterwasser. Könnte sich ein Seehund den Vogel geschnappt haben? Zumal das Schiff just die Seehundbänke und die Insel Neuwerk passiert. Wie viele Geheimnisse, behält das Meer auch dieses bei sich.
Nach anderthalb Stunden auf See taucht am dunstigen Horizont voraus ein blauer Schatten auf. Eine weitere Viertelstunde später trudeln Eiderentenfamilien am Schiff vorbei und der Schatten dehnt sich aus, bekommt einen klobigen Leuchtturm auf den Buckel und eine Düneninsel vor die Füße. Der Südhafen mit seinen schurgeraden Betonmauern kommt näher und ein erster Basstölpel schwebt über die MS Helgoland hinweg. Sie ist das erste Schiff, das die Insel an diesem Tag anläuft. Kurz darauf erreichen die Schiffe aus Büsum und Bremerhaven Helgoland, doch da kraxele ich bereits hinauf zum Klippenrandweg, der mich zu den Lummenfelsen führt. Der erste Fehler an diesem Tag, zumal mir vorab geraten wurde, nach meiner Ankunft auf Helgoland direkt mit der Dünenfähre auf die Nachbarinsel zu schippern, was einen entspannteren Aufenthalt mit deutlich weniger Zeitdruck bedeutet. Doch mich zieht es wie magisch zu den Klippen.

Von oben sehe ich beim Ausbooten zu, kurz nur, denn für den Moment geht es auf dem Klippenrandweg noch ruhig zu. Immerhin sind mir einige Hundert Passagiere auf den Fersen und wenn ich die gefiederten Highlights von Helgoland noch halbwegs ungestört genießen möchte, muss ich mich also sputen. Der steile Invasorenpfad mit dem restlichen, noch steileren Stück, der Südtreppe, hat meinem Kreislauf bereits gehörig eingeheizt. Es gäbe auch einen Fahrstuhl zum Hochland etwas weiter östlich in der Nähe der Biologischen Anstalt Helgoland, aber dafür habe ich keine Zeit. Ein Umweg zudem.
Der Puls stabilisiert sich rasch beim 360-Grad-Blick über die weite, blaue Nordsee. Die Luft ist hier sehr sauber und jodreich, was der Insel den Status eines Nordseeheilbades eingebracht hat. Hier ist Helgoland dann auch endlich leuchtend rot, wie man es kennt. Ein fein gemaserter, etwas schief geratener Sandsteinklotz mit sensationellen Steilklippen, von undefinierbaren weißen Klecksen überzogen, die, je näher ich komme, einen beachtlichen Lärm veranstalten.

Basstölpel
Vorstellungen hatte ich keine. Auch von den Fotos befreundeter Vogelbeobachter konnte ich mir keinen Reim auf die Lummenfelsen machen, doch nun stehe ich direkt davor und bin nur noch verzückt von der Schönheit der Basstölpel. Augenblicklich wird mir klar, dass sich hier an den Brutfelsen der Vögel der ganze Aufwand dieser Reise einfach nur gelohnt hat.
Die Vögel strahlen etwas zutiefst Freundliches und Argloses aus, so nah am Menschen. Ihre grunzend-gurrenden Laute kommen von überall her. Ein unvergleichliches Konzert und ich begreife nicht so ganz, wie man dabei nicht in ehrfürchtiges Schweigen verfallen kann, wie man auf typisch menschliche Weise immer noch, auch hier, über dies und jenes sprechen muss, wie aus Handys Popmusik dringt und sich niemand das Gespräch über Alltägliches verkneifen kann.

Dicht gedrängt stehen die Basstölpel auf ihren Nestern, in denen sich allerlei Treibgut aus dem Meer befindet, Netzstücke, Seile, Plastikteile. Es sind Haufen aus Pflanzen und Kot, die im Laufe der Saison wachsen, denn die Tiere werkeln unermüdlich an den Nestern herum, zupfen Hälmchen zurecht, drapieren die maritimen Müllfunde neu oder treten hier und da ein bisschen platt, was ihnen zu erhaben scheint. In einer Mulde hockt ein flauschiges, weißes Küken mit schwarzem Schnabel. Eine Ähnlichkeit zu den erwachsenen Basstölpeln ist noch immer schwer auszumachen, obwohl die Küken schon einige Wochen alt sind. Ihr Gefieder wird sich bald dunkelbraun färben und mit weißen Sprenkeln überziehen und erst im Laufe des zweiten und dritten Jahres allmählich der typischen Gefiederfärbung der Altvögel weichen.


Das Begrüßungsritual der Basstölpel ist eine Art versetztes Kopfschütteln, die Schnäbel erhoben wie Schwerter zum Kampf. Obwohl es sehr rührend aussieht, wenn die Brutpartner sich gegenseitig das Gefieder putzen oder Elterntiere scheinbar zärtlich an den Jungen knabbern, ist die Kolonie ein konfliktreicher Lebensraum und die Spielregeln sind kompliziert.
Mensch und Müll
Gefährlich wird es aber besonders durch die gesammelten Treibgutfunde aus dem Meer, allem voran Plastik. Beim Gang entlang der Kolonie sind die Netzteile in den Nestern nicht zu übersehen. Es gibt verendete Tiere, die sich darin verfangen haben. Und es gibt solche, die mit Netzteilen behangen sind, nur eine Frage der Zeit also, bis auch sie dem menschengemachten Müll zum Opfer fallen. Das Problem ist so gravierend, dass 2015 eine Kooperation aus dem GEO-Magazin, Greenpeace, der Vogelwarte Helgoland vom Institut für Vogelforschung und dem Verein Jordsand e.V., welcher das Naturschutzgebiet Lummenfelsen betreut, ein Pilotprojekt startete und nach der Saison sieben Basstölpelnester entnahmen, um die natürlichen und künstlichen Nistmaterialien zu trennen. Dabei fanden sie zehn Kilogramm Kunststoff. Wer gesehen hat, wie klein ein Basstölpelnest ist, und wer weiß, wie wenig Kunststoff wiegt, dem wird spätestens hier klar, von welchem Problem die Rede ist.

Seit 2019 widmet sich Elmar Ballstaedt vom Verein Jordsand e.V. in einem auf vier Jahre ausgelegten Forschungsprojekt dem Problem. Er will zwei Fragen klären. Zum einen möchte er herausfinden, woher der Müll stammt, wie ihn die Basstölpel finden und in welchem Zeitraum sie dies tun. Zum anderen interessiert ihn die chemische Zusammensetzung des Kunststoffs, um daraus mögliche Schlüsse über die Herkunft beiziehungsweise die Hersteller ziehen zu können. Auf der Projekt-Homepage informiert er regelmäßig über den Stand der Erkenntnisse. Eines war allerdings schon 2015 klar: die Fäden, Seile und Netzteile in den Nestern, die zum Teil aus der Distanz schon zu erkennen sind, stammen von Schleppnetzen, von denen sie sich ablösen, wenn dies über festen Untergrund geschleift wird.

Unterstützen kann man Elmar Ballstaedt mit Spenden (Link zur Spendenplattform betterplace.org), aber auch mit der Einsendung von eigenen Fotos (Link zum Kontaktformular des Basstölpel-Projekts), auf denen in Müll verstrickte Basstölpel zu sehen sind.
Trottellummen
Bis in vierzig Meter Höhe brüten die Vögel an den Steilklippen über dem Meer. Unten zieht sich eine Schutzmauer an den Felsen entlang, denn der Buntsandstein ist empfindlich und immer wieder tun sich Risse und Spalten auf, die befürchten lassen, dass die Klippen weiter bröckeln. Die Schutzmauer soll eine Brandungskehle und damit ein Abrutschen des Kliffs verhindern. Die Lummenfelsen sind das kleinste Naturschutzgebiet in Schleswig-Holstein, zu dem Helgoland im Landkreis Pinneberg amtlich gehört, und sie umfassen gerade einmal drei der großen Klippen der westlichen Steilküste. Doch auf diesen Felsvorsprüngen ist mächtig was los. Neben den Basstölpeln brüten hier auch tausende von Dreizehenmöwen, Trottellummen, Eissturmvögeln, hier und da ein paar Silber- und Heringsmöwen und gelegentlich auch einige wenige Tordalke. Der Lärm ist gigantisch, aber nicht unangenehm. Der Geruch von Vogelkot schon. Er steigt zwischen den steilen Felswänden auf und wabert im gleißenden Sonnenlicht über der Brutarena.
Die Namensgeber der Felsen, die Trottellummen, brüteten hier schon lange bevor die Basstölpel 1991 erstmals auftauchten. Das Gebiet wurde daher schon 1964 unter Schutz gestellt und gilt heute als das Naturschutzgebiet mit der größten Brutdichte in Deutschland.

Von den Lummen ist zunächst nicht viel zu sehen. Obwohl die Basstölpel mit derzeit etwa 1100 Brutpaaren zahlenmäßig hinter den Lummen (etwa 3000 Brutpaare) liegen, ist ihre Präsenz an den Felsen sehr dominant. Bislang wirkt sich die Zunahme des Basstölpelbestands noch nicht negativ auf die Lummen aus, doch es wird enger im Naturschutzgebiet.
Für den Lummensprung bin ich in der zweiten Julihälfte freilich schon zu spät und Küken entdecke ich auf den Felsen nur noch ein einziges. Überhaupt sind nach dem Lummensprung, dessen Höhepunkt Ende Juni liegt und meist in den späten Abendstunden bis in die Nacht hinein dauert, kaum noch Lummen da.
Auch für die Trottellummen ist der Müll in den Basstölpelnestern ein Problem. Zwar meiden die Lummen während der Brutzeit die Basstölpel so gut es geht, doch nach deren Wegzug im Herbst halten sich die Lummen auch bei den Nestern der Tölpel auf und verfangen sich mitunter in den Seilen, Fäden und Netzteilen.

Zahlreiche Dreizehenmöwen, deren Küken in ihrer Entwicklung ein weites Spektrum von „flügge“ bis „gerade geschlüpft“ bedienen, brüten auf schmalen Felsvorsprüngen in schwindelerregender Höhe. Sogar Eier liegen vereinzelt noch in den Nestern. Dreizehenmöwen sind an diese Brutbedingungen besonders angepasst. Ebenso wie die Trottellummen und die Basstölpel stehen die Vögel immer mit der Bauchseite zum Felsen. Die Küken bewegen sich tagelang überhaupt nicht. Fast einen Monat lang ist immer ein Altvogel am Nest, um die Jungen vorm Absturz zu sichern und ihnen Schatten zu spenden. Erst danach entfernen sie sich zunehmend vom Nest, bleiben aber zur Verteidigung noch in der Nähe

Nun, gegen Ende Juli, machen sich die Altvögel allmählich auf das offene Meer davon, dem Lebensraum, der den Dreizehenmöwen mehr liegt, als allen anderen Möwen in der westlichen Paläarktis. Die Jungvögel werden etwa einen Monat später folgen.
Die Ruhe, die mit dem Wegzug der Tölpel, Lummen und Möwen an diesen Felsen einkehren wird, ist fast nicht vorstellbar.
Gedankenspiele
Während ich mit Blick auf Nordstrand und Unterland Richtung Hafen zurückkehre – ich habe es eilig, nach wie vor – passiere ich die Vogelstation und den Fanggarten. Zur Zugzeit muss hier mächtig was los sein, wenn die Vögel der norwegischen Küste folgend auf ihrem Weg nach Süden Richtung Wattenmeer, Holland und Frankreich über die Deutsche Bucht ziehen. Inmitten des Meeresblaus blinkt ihnen dabei dieser rote Sandkrümel entgegen, der perfekte Ort für eine Rast. Unten lauern dann Scharen von Ornithologen, und solche die es sein wollen, mit ihren Spektiven und Kameras, um unter der wohlbekannten, bunten Schar eine elektrisierende Ausnahme herauszufiltern: Irrgäste, Ausnahmeerscheinungen, seltene Arten.

Ich kann mich da selbst noch nicht wiederfinden. Wenn ich an die Diskussionskultur einiger Ornithologengruppen in den Sozialen Netzwerken denke, müssen Zugvogeltage auf Helgoland ein Konzentrat an Fachsimpelei und wahrscheinlich auch mancher Eitelkeit sein. Andererseits, nirgends ist die Chance höher, mit ziemlicher Sicherheit eine dieser aviären Ausnahmeerscheinungen zu entdecken. Und wer es darauf anlegt, der muss schon ziemlich tief in dieser Materie stecken. Vielleicht brauche ich einfach noch zwei, drei Jahre und gut einhundert Arten mehr auf meiner Liste, um mich dem Vogelherbst auf Helgoland zu stellen.
Fossilien und Feuerstein
Während das Hochland nahezu baumfrei ist, gibt es an den Hängen und im Unterland Dickichte und Buschland. Zwischen Invasorenpfad und Küste dehnt sich eine Art Krater aus, ein Amphitheater aus rotem Sandstein und grünem Laub. Darin hallen Vogelstimmen wieder und in den Heckenrosen flitzen Schatten umher. Aber dafür habe ich nun wirklich keine Zeit. Ich muss zur Düne hinüber und sollte die nächste Fähre erwischen, die zu jeder vollen und halben Stunde an der Landungsbrücke ablegt.

Die Frau im Ticketladen guckt mich schief an.
„Was?“, fragt sie durchdringend mit einem Dialekt, holländisch vielleicht oder englisch. „Das lohnt sich doch gar nicht für eine Stunde! Da sehen Sie doch nichts!“
Es ist inzwischen 15 Uhr und wenn ich in zwei Stunden pünktlich auf der MS Helgoland sein will, muss ich um 16 Uhr die Fähre von der Düne zurück nehmen. (Der zweite Fehler des Tages, denn auf der Düne legt die Fähre erst 16.15 Uhr ab.) Eine Stunde für die Düne, mehr hab ich nicht, denn es sind gute fünfzehn Minuten von der Landungsbrücke zum Südhafen.
Fast schafft es die Dame, mich aus dem Konzept zu bringen, doch ich habe noch eine Mission. Schlußendlich sitze ich in der Dünenfähre und tuckere hinüber, vorbei an den Schiffen aus Bremerhaven und Büsum, deren Passagiere bereits wieder mit den Bördebooten an Bord transportiert werden.
Drüben folge ich zunächst dem Fußweg durch die Dünen. Zwischen dem Strandhafer hocken graubraune Federbälle und gucken, als wüssten sie immer noch nicht so recht, wie sie hierhergekommen sind und wozu überhaupt. Heringsmöwenküken mit tiefenentspannten Eltern. Ich kann ungestört fotografieren.

Über einen der offiziellen Dünenwege gelange ich an den nördlichen Strand und krame mein leeres Bertolli-Tomatensoßenglas aus dem Rucksack. Es ist jedes Mal ein ehrfürchtiger Moment, an einem Strand niederzuknien und das Glas mit Sand zu füllen. Ich lasse ihn durch die Finger rieseln, spüre, ob er kalt oder warm ist, feucht oder trocken, fein gekörnt wie Zucker, oder gröber, rein oder mit Steinchen und Muschelschill versetzt.
Hier ist er fein und kühl und trocken und ich lasse ihn ins Glas rieseln. Dabei schaue ich mich um und atme das erste Mal an diesem Tag durch. Das ist wichtig. Es muss ankommen im Kopf, dass ich angekommen bin im Hier und Jetzt, an diesem Ort. Ein kurzer Moment nur, denn schon drängen sich die nächsten Punkte auf der Liste ins Bewusstsein: Kegelrobbe, Feuerstein und Fossil.

Während ich zur östlichen Spitze der Düne marschiere, suche ich die Steine und Muscheln am Spülsaum ab. Es ist nicht allzu schwierig, einen für Helgoland typischen, schwarzen Feuerstein zu finden, auch wenn er hier am Strand nicht so blank poliert daliegt wie in den Souvenierläden. Zufällig entdecke ich eine versteinerte Schnecke und packe sie mit dem Feuerstein ins Bertolliglas. Dann quere ich die Einflugschneise am Flugplatz und gelange an einen Steinstrand, auf dem es wieder viele Heringsmöwen gibt. Sie staksen umständlich über die rundgeschliffenen, blaugrauen Steine, die Küken unförmig wie buckelige Zwerge, oder sie hocken mit den Austernfischern in den Dünen und haben beneidenswert viel Zeit. Ich dagegen habe nur noch zwanzig Minuten, um zur Fähre zurück zu kommen. Und die Kegelrobben sind auch nirgends zu sehen.

Mein Schritt wird schneller, mein Puls folgt. Die Sonne, von mir unbemerkt, brennt auf mich nieder und ich habe – der Leser ahnt es bereits – als dritten Fehler des Tages keine Sonnencreme dabei. Hinterm Flugplatz taucht der Leuchtturm des südlichen Strandes auf. In der hintersten Ecke, fast wäre ich daran vorbei gelaufen und nur der zufällige Blick zurück lässt sie mich entdecken, lungern dann auch endlich die Kegelrobben in der Zwischenwelt aus Sand und Meer und Felsen. Ein paar Fotos, Fähre hin oder her, müssen sein. Dann rase ich durchs Bungalowdorf zurück zum Hafen und staune trotz allem ein wenig, wie klein die Düne doch ist.

Am Hafen ärgere ich mich ein bisschen, als mir klar wird, dass ich noch gut eine Viertelstunde Zeit gehabt hätte, weil ich mit der Abfahrt zur vollen Stunde gerechnet hatte.
Am Anleger stehen drei Feuerwehrmänner in den dicken Jacken und Hosen ihrer Schutzkleidung. Sie wirken wie Außerirdische an diesem Ort, an dem man Fischer erwartet und allerhöchstens noch einen Polizisten. Dazu gesellt sich ein schnieker Seehundjäger mit sonnenbrauner Haut und akkurat getrimmtem Bart. Er trägt das khakifarbene Hemd eines Rangers, passende Shorts dazu und einen dunklen Lederhut, der an Indiana Jones erinnert. Mein Kopfkino ist ausverkauft, während wir zurück tuckern und ich überlege, was so ein Seehundjäger den ganzen Tag auf Helgoland treibt.
Wortfetzen dringen zu mir, als ich eine zeitlos umher trudelnde Eiderente beobachte und dabei meine Erschöpfung brutal über mich herfallen spüre. Es ist der 17. Juli, zwei Tage vor dem Start des Deichbrand-Festivals auf dem Flugplatz in Nordholz bei Cuxhaven. Auf Helgoland dagegen findet an diesem Tage das Inselfest statt. Die Verbindung zwischen beiden sind Fettes Brot, die auf Helgoland ein Konzert geben werden, als Warm up für Deichbrand.
„Wie heißen die?“, fragt eine Dame. „Fettes Brot? Fett wie dick?“
Man sollte zuerst auf die Düne. Zum einen hat man danach keinen Zeitdruck mehr auf Helgoland, denn man muss nur noch zum Schiff zurück, ohne Fährstress und Wartepausen. Zum anderen ist der große Ansturm auf die Lummenfelsen dann schon vorbei.
Da ich – bedingt durch das Inselfest – eine sehr gute Schiffsverbindung mit fünf Stunden Aufenthalt hatte (und mehr geht fast nicht, es sei denn man übernachtet), habe ich durch diesen Fehler nicht nur Zeit verloren, sondern auch mehr Stress gehabt als nötig gewesen wäre. Trotzdem bleibt ein Tagesaussflug nach Helgoland immer eine Sache für Eilige. Es wird mir ein ewiges Rätsel sein, wie man die dadurch so kostbare Zeit hier mit zollfreiem Shopping verplempern kann.
Zurück ans Festland
Die Rückfahrt ist zunächst kurzweilig. Vom Achterdeck aus sehe ich zu, wie Helgoland wieder zu einem blauen Schatten wird. Eine Regenwolke verschluckt es schließlich. Zurück bleibt die schaumige Spur des kabbeligen Fahrwassers, in dem von Zeit zu Zeit ein Seehund auftaucht und gleich wieder verschwindet. Auf halber Strecke ankern Containerriesen, die auf die Einfahrt in den Hamburger Hafen warten. Mehr als ein Dutzend stehen in der spiegelblanken See. Neuwerk und die Seehundbänke sind von der Ebbe weit ausgedehnt. Der Schlick glitzert wie verrückt in der Abendsonne, macht das Hinsehen schmerzhaft. Am Horizont wabert die Luft und lässt die schwarze Silhoutte von Neuwerk flirren. Die Tonnen entlang der Fahrrinne ziehen in scheinbar endloser Folge am Schiff vorbei. Die Steinbuhne taucht auf, die von der Cuxhavener Kugelbake aus in die Nordsee hineinreicht und der mündenden Elbe noch ein Stück weit den Weg ins Meer hinein weist. Dahinter spazieren Menschen über die gluckernde Weite des Meeresbodens zwischen Muscheln, Krebsen und zu Haufen zusammengefallener Algen umher.
Der Tag war unheimlich voll, ein Konzentrat an Unbekanntem – und so etwas liebe ich. Ich mag es auch, hunderte von Fotos zu verfeuern und mir Details einzubrennen, Worte – eine Art Haiku – zu finden, die einen Ort oder eine Sache definieren.

All das hat mich in den darauffolgenden Tagen und Wochen beschäftigt gehalten, während ich in den Tagebuchseiten blätterte, die Fotos durchsah, recherchierte, die Einzelteile zusammensetzte. Schlussendlich kann ich nichts anderes sagen, als dass sich ein Tagesausflug nach Helgoland immer lohnt, wenn man sich gerne bis zur Gänze mit neuen Eindrücken vollsaugt und auch Wochen danach noch davon zehren kann. Die Tierwelt Helgolands ist einzigartig und in wenigen Stunden sehr eindrucksvoll erlebbar.
Links
Zum GURKENGLAS
Wege nach Helgoland
Homepage der Reederei Cassen Eils (MS Helgoland sowie Seebäderschiffe von Büsum und Bremerhaven)
Homepage der FRS Helgoline (Halunder Jet)
Homepage des Ostfriesischen Flugdienst (Angebote der Flugverbindungen)
Basstölpel
Artikel des GEO-Magazin zum Pilotprojekt 2015: „Todesfalle Plastikmüll – Klettereinsatz am Helgoländer Vogelfelsen“
Homepage des Forschungsprojekts Basstölpel und Meeresmüll von Elmar Ballstaedt
Beitrag von Marlene Riederer für den BR : „Plastikmüll – Tödliche Gefahr für Seevögel auf Helgoland“
Eintrag bei Wikipedia zum Basstölpel – durchaus lesenswert!
Youtube
„Der Ruf der Vögel von Helgoland“
Der 30-minütige Film von Gabriele Lebs stellt die Arbeit der Vogelwarte Helgoland und des Verein Jordsand e.V. vor.
