Für den 75-jährigen Arnulf Conradi ist Vogelbeobachtung wie Meditation und ich möchte ihm glauben. Nicht nur, weil er seit Kindesbeinen leidenschaftlich Vögel beobachtet hat und damit über einen Erfahrungsschatz verfügt, welcher den meinen um wenigsten 35 Jahre übertrifft. Auch wegen der Ornithologen selbst.
„Vogelbeobachter sind Rechthaber, denn sie wetteifern beim Artenbestimmen.“
–Arnulf Conradi
Die Naturbeobachtung droht zu einem Sport, einem Wettkampf, zu verkommen, bei dem immer außergewöhnlichere optische Geräte zum Einsatz kommen und jeder gerne mit seinem Wissen und seinen Sichtungen prahlt.
Dabei ist Vogelbeobachtung eine Kunst, wenn man den Vögeln mit allen Sinnen auf die Spur zu kommen sucht.
Elf Kapitel Meditation
Das Buch fängt auf einer Kreuzfahrt vor Südgeorgien im Atlantik an, mehr als tausend Kilometer vor der Südspitze des amerikanischen Kontinents. In dieser Welt aus Kälte und Eisbergen beginnt Conradi mit seinen Gedankenbildern um Flug, Gesänge und Aussehen von Albatrossen, Sturmvögeln und Möwen. Er ist dabei präzise und detailliert, zugleich ausschweifend und driftet in seinen Darstellungen gerne ab, nach Sylt oder North Carolina. Er verflicht seine Erlebnisse mit der Geschichte des britischen Polarforschers Ernest Shakleton, der nach einer tausend Kilometer langen Seereise in einem Ruderboot in Südgeorgien strandete, und führt den Leser mit Worten der Bewunderung dieser nautischen Leistung nach Stromness Bay, wohin Shakleton sich mit letzter Kraft schleppte und wo heute Seeelefanten und andere Robbenarten mit stoischer Ruhe dem Rost und Zerfall der einstigen Walfangstation beiwohnen.
Es ist das längste Kapitel des Buches, gefüllt mit epischen Bildern von Landschaften, Farben, Gerüchen, Klängen, und mit Erinnerungen, scharf wie anatomische Zeichnungen, an die Gefühle und Zustände in den Momenten der Beobachtung. Und es ist das wichtigste Kapitel, denn es endet mit einem jungen Mann auf dem Schiff, der inmitten all der Fülle, an die Conradi den Leser erinnert, nur ein Foto macht und sich dann abwendet.
Erst hier wird klar, warum diese Ausführungen so umfangreich waren. Hinsehen, beobachten, begreifen, eins werden mit dem Erlebten – das sind ganz unterschiedliche Dinge, denen wir uns in ganz unterschiedlicher Intensität widmen. Und noch bevor Conradi im zweiten Kapitel einen Überblick zum Zen-Buddhismus präsentiert, ahnt der Leser bereits, dass echte Beobachtung verändert, weitet, prägt. Die Erfahrung lässt sich nicht abschütteln und selbst kann man sich ihr auch nicht entziehen.
„Die Vogelbeobachtung stärkt etwas in uns, was man das visuelle Gedächtnis nennen kann, aber nicht nur das – auch die Umgebung, in der man dieses Erlebnis gehabt hat, prägt sich ein, sodass auch kleine und scheinbar unbedeutende Dinge in der Erinnerung haften bleiben.“ (S. 18)
Die Reise des Buches führt den Leser nun weiter nach Sylt, in den waldreichen Berliner Süden nach Zehlendorf und Grunewald, in die Alpen nach Balderschwang, weiter in die Uckermark, an die sich durch Schilfweiten schlängelnde Peene und schließlich nach Helgoland. Überall schildert Conradi seine Eindrücke, führt den Leser an diesen Orten umher, beschreibt Gerüche und Klänge, Jahreszeiten und Emotionen. Man liest und schreitet bereitwillig mit, denn zwischen den Bildern und Zeilen seiner Worte finden sich Aphorismen, die einem nicht leicht auf der Zunge zergehen, sondern über die es nachzudenken lohnt.
Beobachten als Form der Meditation
Hintergrund (oder fernöstliches Pendant) dieser Aphorismen ist das, was der Zen-Buddhismus Haiku nennt. Im Haiku formuliert sich die Essenz des Beobachteten und Erlebten und stellt zugleich die Herausforderung an den Hörer, die Essenz wieder aufzulösen in eigenem Beobachteten und Erlebten, um daraus womöglich ein neues Haiku zu formulieren.
Die Natur dient dabei als Inspiration und Motivation, über das Beobachtete und Erlebte nachzudenken, es zu ergründen, um – wie kann es auch anders sein – Erleuchtung zu finden.
In verständlichen Worten beschreibt Conradi im zweiten Kapitel Geschichte und Inhalte des Zen-Buddhismus und den Einfluss, den die Lehre auch in der westlichen Zivilisation genommen hat, insbesondere in der Philosophie und Psychologie.
Die Praxis der Meditation im Sinne des Zen ist keine Sache der Entspannung, obwohl sich durchaus eine innere Ruhe einstellen soll. Vielmehr geht es jedoch um Achtsamkeit und Konzentration mit dem Ziel, im fokussierten Denken die Gedanken verstummen zu lassen.
„Aus medizinischer Sicht geht es bei der Meditation zunächst einmal darum, die jedem Menschen eigenen Kräfte der Besinnung und Konzentration wachzurufen und auf diese Weise das Denken zu beruhigen.“ (S.52)
Viele psychische Erkrankungen der modernen Welt, allen voran Depressionen, sind geprägt von „zwanghafter und schwer abzuschüttelnder Grübelei, mit ungewollten, aber hartnäckigen Gedanken“ (S. 53), schreibt Conradi. Überwiegend seien dabei negative Dinge, mit denen Menschen sich beschäftigen, allem voran Sorgen.
„Indem wir versuchen, die Gedanken in unserem Gehirn zu beruhigen oder stillzustellen, gewinnen wir Distanz zu den Problemen, um die diese Gedanken kreisen.“ (S.55)
Die Resultate regelmäßiger Meditation lassen sich so beschreiben: Ruhe und innere Kraft, Distanz zu eigenen Emotionen, Objektivität, Stress-Resistenz, Gesprächsbereitschaft und verminderte Alltagsangst.
„Das obsessive, selbstquälerische Denken, die ständige Beschäftigung mit Vergangenem und Zukünftigem, mit Minderwertigkeitsgefühlen und überzogener Selbstkritik, wird zurückgedrängt zugunsten einer Hinwendung zur Gegenwart, zum Erleben und zur Aufmerksamkeit anderen gegenüber.“ (S.55)
Im Zen liegt der Weg zu Erleuchtung, der auch ein Weg der Heilung ist, im achtsamen und wachsamen Wahrnehmen der Umwelt, der Menschen und mehr als alles andere der Natur. Die Meditation löst kreative Prozesse aus, lösende Prozesse, also Lösung schaffende Einsichten und Gedanken. Das Wahrnehmen ist dabei keineswegs nur auf das Sehen beschränkt, sondern auf jede dem Menschen mögliche sinnliche Erfahrung. Und exakt hier, sagt Conradi, begegnen sich Zen und Vogelbeobachtung.
Spaziergänge
In den nun folgenden Kapiteln unternimmt Conradi mit dem
Leser Spaziergänge, wie um das Gelernte gleich einmal anzuwenden und
auszuprobieren. Strandspaziergänge auf Sylt, Waldspaziergänge im Berliner
Westen, eine Skiwanderung in den Alpen entlang eines Gebirgsflusses, eine
Wasserwanderung auf der Peene…
Während der Umrundung zweier Seen in der Uckermark durchschreitet er auf diese
Weise einen Knick, eine Landschaftsform, die der Intensivierung und
Ökonomisierung der Landwirtschaft reihenweise zum Opfer fällt. Das Anpflanzen
von Wallhecken, wie Knicke auch genannt werden, diente einst dem Schutz der
Felder vor Verbiss durch Wildtiere und Vieh. Die undurchdringlichen Dickichte
aus dornenbewehrten Sträuchern sind einzigartige Biotope, die Auswirkungen bis
ins weitere Umfeld haben.
„So ein Knick ist eine Welt für sich…“, schwärmt Conradi und er erwähnt, dass ihm dieser Knick viel bedeutet. „… manchmal glaube ich, dass ich nur hierhergeschickt worden bin, um diesen Knick zu schützen und ihn für immer zu erhalten.“ (S.70)
Der Spaziergang um die Seen zieht sich über fünfzehn Buchseiten hin, in denen der Blick des Lesers dem Conradis folgt, das Gewimmel im Knick sieht, die Weite des Feldes, die sich dahinter bis zum Waldrand erstreckt, das Kräuseln von Wasser und Rieseln von Schnee, Reflexionen auf dem Wasser zwischen tauendem Eis, dazwischen Enten, Säger, Schwäne. Inmitten der Erzählung dann ein Gedanke über das Stehenbleiben:
„Das Lob des Stehenbleibens ist auch deshalb so berechtigt, weil das Verharren zu etwas führt, was man „Umsicht“ nennen könnte, die plötzliche Wahrnehmung der Umgebung, in der man sich befindet. (S.78)
Es ist dieses Innehalten, was sowohl Meditation als auch Vogelbeobachtung prägt. Damit einher geht die Verdichtung der Wahrnehmung hin zu einem Punkt, dem Vogel, während alles andere unter höchster Aufmerksamkeit betrachtet, belauscht und gefühlt wird. Diese Momente, die jeder Vogelbeobachter kennt, zeichnen sich durch eine Art Schwerelosigkeit aus. Das „Geschwätz der Gedanken“, wie es Conradi bezeichnet, das gedankliche Gespräch, die Geistesabwesenheit, lassen uns vorbeigehen. Aber fällt dieser Ballast von uns ab, nehmen wir auf höchst umfassende Weise wahr.
Im Grunde ist dies die Essenz des Buches, auch wenn sich die Landschaften und Beobachtungen ändern. Es ist eine Ermutigung zum umsichtigen, achtsamen und ganzheitlichen Beobachten mit allen positiven Effekten und Konsequenzen, die diese Praxis mit sich bringt.
Zen-Lyrik
Aus der langen Geschichte und Tradition der japanischen Dichtkunst, stellt Conradi im vierten Kapitel den Haiku-Meister Bashō vor. Dieser lebte im 17. Jahrhundert und prägte einen neuen Typus der Haiku-Dichtung, bei dem er selbst als Dichter nicht mehr vorkommt. Stattdessen wird in seinen Gedichten nur noch die Natur beschrieben. Darin liegt höchste Objektivität und es ermöglicht, die Natur in absoluter Reinheit – ohne den Betrachter – wiederzugeben. Bashō vervollkommnete dieses Ideal.
Die Haiku sind dreizeilige Dichtungen mit insgesamt siebzehn Silben beziehungsweise Lauteinheiten, die sich nach dem Schema 5 – 7 – 5 verteilen. Darüber hinaus gilt als Regel, dass ein Hinweis auf die Jahreszeit gegeben wird, wobei es dafür eine Vielzahl von Begriffen und Schlagwörtern gibt.
Das besondere an Bashōs Haikus, erklärt Conradi, sei die Lakonie und zugleich Authentizität, die darin liegen und die nur durch jahrelange Betrachtung der Natur möglich ist. Er schreibt:
„Die Haiku Bashōs sind ein reiner Ausdruck des Erlebens der Natur, und wenn man sie als plötzliche Offenbarung liest, versteht man zugleich ihre Tiefe. Wie in der Zen-Meditation schafft man zunächst eine Leere, um dann blitzartige Erkenntnis einzulassen.“ (S. 90)
Einige der Haiku sind in Conradis Buch wiedergegeben, und mit seinen Erklärungen über eigene Naturerlebnisse – die Albatrosse in der Antarktis, der Gaureiher im Grunewalder Fließ – beginnt auch der Leser zu verstehen, warum die Haiku, die Meditation und die Natur- und Vogelbeobachtung tatsächlich miteinander zu tun haben. Mir fiel beim Lesen zumindest auf, dass ich während meiner Streifzüge in der Natur auch den einen oder anderen Haiku erdacht zu haben scheine, denn in der Betrachtung der Natur drängt sich mir gelegentlich ein Spruch, eine Formulierung oder womöglich Erkenntnis auf, die „alles zu sagen“ scheint und mich sehr zufrieden zurücklässt. Ich sollte mir zukünftig die Zeit nehmen, diese Art von Gedanken aufzuschreiben, denn womöglich sind sie wichtig.
Der Autor
Ein Händchen für Bücher hatte Conradi schon immer. Er studierte in den frühen 1970er Jahren Amerikanistik und vergleichende Literaturwissenschaften an der FU Berlin und wurde danach Lektor im Claasen Verlag in Düsseldorf. Später arbeitete er für den Fischer Verlag als Cheflektor und Programmgeschäftsführer. Kurz nach der politischen Wende, im Jahr 1993, gründete er mit seiner Frau Elisabeth Ruge und Veit Heinichen, die ebenfalls bei Fischer arbeiteten, den Berlin Verlag im Prenzlauer Berg. Entgegen aller Skepsis etablierte sich der Verlag rasch, auch weil Conradi zu dieser Zeit bereits als ausgezeichneter Lektor bekannt war.
Die Kindheit in Schleswig-Holstein prägte Conradis Begeisterung für die Vogelbeobachtung. Er verfasste mehrere Artikel und Bücher zu ornithologischen Themen.
2009 brachte Conradi in der Anderen Bibliothek eine 520 Seiten mächtige Auswahl von Johann Friedrich Naumanns „Die Vögel Mitteleuropas“ heraus. Mit 380 von Naumann selbst geschaffenen Illustrationen gespickt – 80 davon bis dahin unveröffentlicht – ist diese Publikation eine wahre Liebeserklärung an die Vogelwelt und eine Würdigung Naumanns, der als frühester und wichtigster deutscher Ornithologe gilt.
Fazit
Das Buch vermittelt nicht nur inhaltlich die meditativen Züge der Vogelbeobachtung, das ganze Buch selbst ist eine Art Meditation, ein Spaziergang durch Landschaften und Naturräume genauso wie durch Geschichte und Lehre des Zen. Die Verknüpfung ist spannend und als Leser geht man diese Gedanken bereitwillig mit, vor allem weil sich während der Lektüre Parallelen zum eigenen Erlebten ziehen lassen.
Es ist ein besinnliches und nachdenklich machendes Buch und das auf eine sehr positive Weise. Da gibt es keine erhobenen Zeigefinger, keine ernüchternden Statistiken, keine aussichtslosen Perspektiven. Vielmehr ist es eine persönliche Sache, vom Autor und auch vom Leser, der sich leicht darin wiederfindet mit seiner eigenen Geschichte, die sich ganz ähnlich lesen könnte. Zumindest eine Anforderung an die Zielgruppe, so scheint es, ist die Liebe zur intensiven Naturerfahrung, die Suche nach Erquickung und vielleicht auch Wahrheit in ihr und der Wunsch, dass diese Natur erhalten bleibt, weil wir sie brauchen.
„Aus vielen Gesprächen mit Birdwatchern weiß ich, dass die Vogelbeobachtung eine Leidenschaft ist, die im Gegensatz zu vielen anderen Leidenschaften sehr beständig ist. Sie scheint einen Menschen, den sie sich ausgesucht hat, nur sehr selten wieder zu verlassen.“ (S.221)
Datenblatt
Titel: Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
Autor: Arnulf Conradi
Einband: gebundene Ausgabe; 240 Seiten
Auflage: 1., Ersterscheinung: April 2019
Verlag: Antje Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-289-5
Alle Zitate aus „Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung“ von Arnulf Conradi. Mit Genehmigung des Antje Kunstmann Verlags.
Links
Leseprobe (Homepage Antje Kunstmann Verlag)
„Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung“ von Arnulf Conradi im Webshop des Antje Kunstmann Verlag